Familie
Lernen im Ausnahmezustand

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Was macht das seit über einem Jahr im häuslichen Unterricht praktizierte Distance Learning (Fernlehre) mit unseren Kindern? Werden sie aufgrund von Wissenslücken zu einer „verlorenen Generation“ oder profitieren sie am Ende sogar davon?

Cornelia Wagner-Sturm leitet als Schuldirektorin die Volks- und Mittelschulen in Aschbach-Markt und Wolfsbach:

Sie lernen manches nicht, dafür aber Wichtigeres

Der verminderte Präsenzunterricht an den Schulen hat bewirkt, dass die Kinder und Jugendlichen manches nicht lernen, dafür aber Wichtigeres. Die Schüler haben zum Beispiel gelernt, sich selber zu organisieren, und sie sind digital fitter geworden. Leis­tungsbeurteilungen, die sich an herkömmlichen Vorgehensweisen orientieren, sehe ich deshalb skeptisch. Man kann nicht so tun, als ob an der Schule alles so wie immer läuft – denn es ist derzeit überhaupt nichts, wie es immer war.
In der Schule geht es ja nicht nur darum, Lernstoff zu vermitteln; den reinen „Stoff“ kann man, wenn man will, auch woanders abrufen. Die soziale Interaktion zwischen den Kindern und zwischen Schülern und Lehrern ist ebenso wichtig, es geht hier auch um die Motivation zum Lernen. Für das Lernen, die Motivation und die Freude, spielt die jeweilige Bezugsperson eine bedeutende Rolle.
Zur Zeit leisten alle extrem viel: Schüler, Lehrer und Eltern. Wir haben ja den Eltern den Unterricht quasi ins Wohnzimmer gebracht und sie zu Teilzeit-Kollegen gemacht. Deswegen versuchen wir Pädagogen, ihnen nicht nur Lernpakete zu liefern, sondern ihre Leistung auch wertzuschätzen und sie bei der Begleitung ihrer Kinder zu unterstützen.
Was ich im letzten Jahr auch beobachten konnte, war, dass sich die Fehlerkultur geändert hat. Bei der Technik kommt es immer wieder zu größeren und kleineren Problemen – Kinder und Erwachsene stehen gleichermaßen davor und helfen einander gegenseitig.
Die Wertschätzung für den Unterricht an der Schule ist bei vielen gestiegen. Wir an der Schule merken: Die Schüler wollen was tun, sie wollen lernen, sie freuen sich auf die Schule.

Manfred Schagerl ist Vater von drei schulpflichtigen Kindern (Volksschule und Gymnasium):

Ein Plus: Zeit frei einteilen und selbständig lernen

Als Familie befinden wir uns derzeit in einer guten Situation. Es gibt ein gutes soziales Umfeld: Nachbarn, Freunde und Großeltern unterstützen uns fallweise, die Kinder fühlen sich nie allein, sie haben Kontakte zu anderen Kindern, wenn auch reduziert. Wir Eltern haben sichere Jobs, und unsere Wohnsituation ist gut. Wir glauben daher, dass der Schaden, den Corona-Maßnahmen an unseren Kindern anrichten könnten, gering ist.
Was die schulische Komponente betrifft, so hat unsere älteste Tochter, die die erste Klasse eines Gymnasiums besucht, schnell gelernt, selbständig ihren Schulalltag zu organisieren und zu arbeiten. Als ein großes Plus empfinde ich die freiere Zeiteinteilung. Unsere beiden jüngeren Kinder, die die Volksschule besuchen, bekommen im Homeschooling jede Woche eine Lernmappe mit Aufgaben für jeden Wochentag. Wann sie welche Aufgaben am Vormittag erledigen, ist ihnen freigestellt: Mathematik, Deutsch, Sach­unterricht, Englisch, Werken oder Religion – sie haben eine Wahlmöglichkeit. Vorige Woche stand für unsere Tochter, die die dritte Klasse Volksschule besucht, das Thema „Tiere“ auf dem Plan. Weil sie dieses Thema sehr interessiert, hat sie sich länger damit beschäftigt und noch ein Video dazu angeschaut– in der Schule wäre das so nicht möglich gewesen. Das starre Modell von „50 Minuten Unterricht – 5 Minuten Pause“ hinterfrage ich. Ich denke, die Entwicklung müsste weggehen vom Frontalunterricht hin zu einem Modell, in dem die Lehrer, der Lehrer mehr als Coach und Lernbegleiter/in fungiert.
Durch die Corona-Pandemie werden die Mängel unseres Schulsystems deutlich. So geht die Kluft zwischen Kindern weiter auseinander: Die aus bildungsfernen Familien werden noch bildungsferner, die mit vielen Ressourcen ziehen noch mehr davon.

Valentina Kloib­hofer, Schulsprecherin am Stiftsgymnasium Seitenstetten, besucht dort die 7. Klasse:

Je länger Distance Learning, umso schwieriger

Für die Oberstufe ist das Homeschooling mittlerweile leider schon zur Gewohnheit geworden. Arbeitsaufträge werden über die Lernplattformen gestellt und in den meisten Fächern finden regelmäßig Konferenzen statt. In manchen Fächern werden Gruppenarbeiten durchgeführt und Referate gehalten. Ausflüge, Reisen und Vorträge fallen leider großteils weg und viele Schüler/innen der Oberstufe sind von der aussichtslosen Situation und der Unklarheit frustriert.
Für die Unterstufe war der Unterricht von Zuhause noch sehr neu. Aber die Jungen lernen bekanntlich schnell und auch in der Unterstufe läuft der Unterricht mittlerweile gut. Auch ihnen fehlt natürlich der Kontakt zu ihren Klassenkameraden/-kameradinnen.
Was den Lernstoff betrifft, kann es vorkommen, dass manche überfordert sind. Da war es mir wichtig, von Anfang an mit den Lehrer/innen zu kommunizieren. Auch Lehrer/innen erleben das Homeschooling als sehr anstrengend und haben großes Verständnis, wenn es jemandem zu viel wird. Das Distance-Learning ist eine Herausforderung für uns alle und je länger es anhält, desto schwieriger wird es. Man könnte sagen, nach einem halben Jahr Zuhause fühlt sich jede Aufgabe doppelt so groß an wie noch im Oktober.
Die Schüler/innen haben aber auch profitiert. Neben dem Erwerb von vielen technischen Fähigkeiten haben wir alle Durchhaltevermögen bewiesen. Viele haben neue Arten gefunden sich selbst zu motivieren und sind generell selbstständiger geworden. Jeder hat einen eigenen Weg gefunden seinen/ihren Tag zu strukturieren, sich zu organisieren und motiviert zu bleiben. Ich habe meine Mitschüler/innen zu dem Thema befragt und ein Großteil hat eine höhere Wertschätzung für die Schule entwickelt. Viele haben gemerkt, dass die Schule in Präsenz doch Spaß macht und uns gut tut.

Autor:

Patricia Harant-Schagerl aus Niederösterreich | Kirche bunt

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