Schwere Vorwürfe gegen den früheren Papst Benedikt XVI

Laut eines Gutachtens habe der emeritierte Papst Benedikt XVI. in seiner Zeit als Münchner Erzbischof zu wenig getan, um Kinder und Jugendliche vor sexuellem Missbrauch durch katholische Amtsträger zu schützen.   | Foto: VINCENZO PINTO/Apa
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  • Laut eines Gutachtens habe der emeritierte Papst Benedikt XVI. in seiner Zeit als Münchner Erzbischof zu wenig getan, um Kinder und Jugendliche vor sexuellem Missbrauch durch katholische Amtsträger zu schützen.
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Gutachten zum Umgang mit Missbrauchsfällen in der Erzdiözese München und Freising

Ein unabhängiges Gutachten zum Umgang mit Missbrauchsfällen in der deutschen Erzdiözese München und Freising im Zeitraum von 1945 bis 2019 belastet auch den emeritierten Papst Benedikt XVI. schwer.

In dem knapp 2000 Seiten starken Gutachten, das am Donnerstag vergangener Woche in München vorgestellt wurde, werfen die Anwälte der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) dem emeritierten Papst Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger, 94) zum einen vor, während seiner Amtszeit als Erzbischof von München und Freising (1977–1982) in vier Fällen seine Aufsichtspflichten in fataler Weise verletzt zu haben gegenüber Klerikern, die sich an Minderjährigen in mehr oder weniger schwerer Form vergingen.

Zum anderen bekundeten die Gutachter u. a. erhebliche Zweifel an Aussagen von Benedikt XVI. zu einem besonders brisanten Fall eines Wiederholungstäters. Die Causa sorgte als „Fall Peter H.“ bereits mehrfach für internationale Schlagzeilen. Bei der betreffenden Ordinariatskonferenz am 15. Jänner 1980 ging es darum, diesen Priester aus der Diözese Essen im Erzbistum München aufzunehmen, wo er anschließend erneut Kinder missbrauchte. Ob während der Sitzung auch über die Vorgeschichte von Peter H. gesprochen wurde, konnten auch die WSW-Gutachter nicht mit Sicherheit klären. Der emeritierte Papst Benedikt XVI. hatte jedenfalls in seiner ersten, 82-seitigen Stellungnahme im Rahmen der Anhörung, die in das Gutachten aufgenommen wurde, bestritten, an der Sitzung teilgenommen zu haben. Nun hat er diese Aussage korrigiert. Entgegen seiner bisherigen Darstellung habe er doch an der Ordinariatssitzung teilgenommen, heißt es in einer von ihm veranlassten Stellungnahme durch Privatsekretär Erzbischof Georg Gänswein. Der Fehler sei aber „nicht aus böser Absicht heraus geschehen“, sondern „Folge eines Versehens bei der redaktionellen Bearbeitung seiner Stellungnahme“. Dies tue ihm „sehr leid“ und er bitte, dies zu entschuldigen. Allerdings sei in der betreffenden Sitzung „über einen seelsorgerlichen Einsatz des betreffenden Priesters nicht entschieden“ worden. Vielmehr habe man lediglich der Bitte entsprochen, dem Mann „während seiner therapeutischen Behandlung in München Unterkunft zu ermöglichen“. Wie es zu dem Versehen kam, will Benedikt XVI. in einer „noch ausstehenden Stellungnahme“ erklären.

Marx und Wetter ebenfalls belastet. Mit Vorwürfen konfrontiert sind u. a. auch die Kardinäle Friedrich Wetter und Reinhard Marx. Dem früheren Erzbischof Kardinal Friedrich Wetter (Amtszeit 1982–2007) attestiert das Münchner Gutachten Fehlverhalten im Umgang mit sexuellem Missbrauch in 21 Fällen. Der Kardinal selbst habe die Fälle zwar nicht bestritten, ein Fehlverhalten allerdings schon, so Gutachter Pusch.
Auch dem seit 2008 amtierenden Münchner Erzbischof Reinhard Marx wirft das Gutachten Untätigkeit vor. Er habe sich nicht ausreichend um die Behandlung der Fälle sexuellen Missbrauchs gekümmert. Eine gewisse Änderung habe sich erst ab dem Jahr 2018 ergeben. Konkret fehlerhaftes Verhalten attestieren die Gutachter Marx in zwei Fällen. Dabei handele es sich vor allem um die Frage, ob eine Meldung an die Glaubenskongregation erfolgt sei. Kardinal Marx hat jetzt um Entschuldigung für Missbrauchstaten im Raum der Kirche gebeten. „Ich bin erschüttert und beschämt“, sagte Marx in einer ersten Reaktion auf das von der Erzdiözese beauftragte Gutachten. Sein erster Gedanke gelte den Betroffenen, die durch Kirchenvertreter „in erschreckendem Ausmaß Unheil und Leid erfahren haben“.

Täter und Opfer. Der Fokus des Gutachtens lag bei einer Prüfung von Missbrauchstaten in der Erzdiözese München und Freising. Dabei wurden 235 mutmaßliche Täter von 1945 bis 2019 ermittelt, 173 davon Priester, erklärte Gutachter Pusch. Die Zahl der Geschädigten liege bei 497. Davon seien 247 männliche Betroffene gewesen, 182 weiblich. Bei 68 Personen sei das Geschlecht nicht festzustellen gewesen. Dies bestätige, dass überwiegend männliche Kinder und Jugendliche betroffen gewesen seien. Die meisten Taten seien in den 1960er und 1970er Jahren begangen worden, so Pusch. Auffällig viele Tatvorwürfe seien von Betroffenen erst ab dem Jahr 2015 gemeldet worden. Der Anwalt betonte, bei diesen Zahlen handle es sich um das „Hellfeld“, das „Dunkelfeld“ sei weitaus größer.
67 Kleriker hätten laut Pusch aufgrund der „hohen Verdachtsdichte“ aus Sicht der Anwälte eine kirchenrechtliche Sanktion verdient. In 43 Fällen sei jedoch eine solche unterblieben. 40 von ihnen seien weiter in der Seelsorge eingesetzt worden, darunter auch 18 Priester nach einer strafrechtlichen Verurteilung eines weltlichen Gerichts. Der Rechtsexperte sagte auch, dass Geschädigte bis 2002 von den Kirchenverantwortlichen „so gut wie überhaupt nicht wahrgenommen worden“ seien. Falls doch, „dann nicht aufgrund des ihnen zugefügten Leids, sondern weil man sie als Bedrohung für die Institution sah“.

Reaktionen. Nach der Veröffentlichung des Münchner Missbrauchsgutachtens wird die Kritik deutscher Bischöfe am früheren Papst Benedikt XVI. lauter. Bereits am Freitagabend hatte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing, von einem „desaströsen Verhalten“ von Verantwortungsträgern gesprochen und in diesem Zusammenhang auch den emeritierten Papst erwähnt. Am Sonntag rief der Aachener Bischof Helmut Dieser zur Übernahme von Verantwortung auf. „Es kann nicht dabei bleiben, dass Verantwortliche sich flüchten in Hinweise auf ihr Nichtwissen oder auf damalige andere Verhältnisse oder andere Vorgehensweisen.“

Als „guten Tag für die Betroffenen“ hat der Wiener Pastoraltheologe Paul Zulehner die nun veröffentlichte Missbrauchsstudie bezeichnet. Sie sei Zeugnis dafür, „wie lange die Kirche gebraucht hat, den Ernst der Lage auch zu begreifen“, sagte der Theologe kürzlich in der ORF-„Zeit im Bild 2“: „Es ist ein Dokument der Versäumnisse und der Verspätung.“ Zulehner unterstrich zugleich, dass die Kirche selbst, respektive die Erzdiözese München, die Untersuchung in Auftrag gegeben hätte, weil sie um Aufarbeitung bemüht sei.
Der in München lebende österreichische Jesuit und Publizist Andreas Batlogg sagte gegenüber dem ORF-Radio Ö1: Der emeritierte Papst Benedikt XVI. habe durch den Umgang mit den Vorwürfen aus dem Münchner Missbrauchsgutachten selbst „sein Lebensbild nachhaltig zerstört“. Die Studie offenbare ein „Multisystemversagen“ der Kirche, in dem Faktoren wie Klerikalismus, Korpsgeist, sowie übersteigerter Institutionenschutz eine Rolle spielten, so die Analyse des Theologen.

Vatikan. Vom Vatikan gab es zu Redaktionsschluss noch keine Äußerung zum Münchner Gutachten. Der Heilige Stuhl sehe sich „verpflichtet, dem Dokument, dessen Inhalt ihm derzeit nicht bekannt ist, in den folgenden Tagen gebührende Aufmerksamkeit zukommen zu lassen und es zu prüfen“, erklärte Vatikan-Sprecher Matteo Bruni auf Anfrage.

Folgen? Ob das Gutachten auch strafrechtliche Folgen hat, bleibt abzuwarten. Die Staatsanwaltschaft München I ist jedenfalls schon mit der Prüfung von 42 Fällen befasst, in denen die Anwälte ein Fehlverhalten von Verantwortungsträgern der Erzdiözese München festgestellt haben. 

Huber; Kathpress

Interview

„Wir waren blind“

Das Münchner Missbrauchsgutachten bringt schwere Missstände zutage. Warum fällt es Verantwortlichen so schwer, dazu zu stehen?
Sigrid Müller: Ja, warum kann man nicht einfach zugeben, dass es damals schlecht gelaufen ist, dass es ein falsches Management gab? Man müsste sagen: „Unter damaligen Bedingungen waren wir blind für dieses Thema. Wir haben nicht darauf geschaut, was das mit den Menschen macht, die sexuell missbraucht werden, sondern uns nur darum gekümmert, wie wir das innerhalb der Kirche regeln. Wie man die Priester versorgen kann, wo man sie unterbringt.“ Es wurde nur nach innen gedacht, überhaupt nicht an die Menschen. Das ist erschütternd.

Die Kategorien „innen“ und „außen“ sind in der Kirche nicht überwunden.
Müller: Ja, sie sind zum Teil noch da. Papst Franziskus geht mit seiner Idee vom synodalen Weg zu einem anderen Kirchenbild über. Zu einer Kirche, die alle Katholik/innen umfasst. Missbrauchsbetroffene waren auch Ministranten, das ist ja gar nicht „außen“. Aber es gab innerhalb der Kirche den engeren Kreis der Kleriker und den äußeren Kreis der anderen, der Laien. Die Abspaltung in der Kirche kann nur überwunden werden, wenn man sich wirklich als ein Gottesvolk sieht, das gemeinsam unterwegs ist.

125 Kirchenmitarbeiter/innen in Deutschland machten öffentlich, dass sie lesbisch, schwul oder nicht der „Norm“ entsprechend leben. Sie wollen das nicht mehr verheimlichen, aber ihren Arbeitsplatz in der Kirche behalten. Ein weiterer Schritt Richtung gemeinsames Gottesvolk?
Müller: Ein Punkt ist nach wie vor die Angst vor der Sexualität. Beim Thema Missbrauch ging es im kirchenrechtlichen Denken und in der früheren Sexualmoral um bestimmte, beschreibbare Handlungen, die man innerhalb der Kirche nicht haben wollte. Man konnte sie definieren. Wenn sie stattgefunden haben, war es schlecht, wenn sie nicht stattgefunden haben, konnte es nicht so schlecht sein. So geht man auch mit Homosexualität um. Die Menschen werden nicht verurteilt, sondern die Handlungen. Das Grundproblem dahinter ist, dass man Sexualität vom Menschen trennt. Sexualität gehört aber zum Menschen. Die Kirche muss sich dazu bekennen, dass der Mensch ein leibliches, geistiges, seelisches Lebewesen ist, bei dem die Sexualität einfach grundlegend dazugehört. Das muss die Basis sein, damit der Umgang mit diesen Themen ehrlicher wird.

Das erklärt auch die Meinung Papst Benedikts, dass das Masturbieren eines Pfarrers vor „vorpubertierenden Mädchen“ kein Missbrauch sei.
Müller: Ja, weil man damals nicht von der Verletzung der Gefühle, der Persönlichkeit und der Menschenwürde ausgegangen ist, sondern von definierbaren Handlungen, die man einteilen konnte in neutrale oder in moralisch schlechte oder moralisch gute. Das engt den Blick ein. Das psychologische, mitmenschliche Gespür ist in solchen Aussagen zu vermissen.

Ist die Kirche am Weg der Besserung?
Müller: Eindeutig. Die Tatsache, dass die Kirche solche Gutachten in Auftrag gibt, ist ein Zeichen des Aufklärungswillens. Das muss man honorieren.

Interview: Monika Slouk

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