21. Sonntag im Jahreskreis | 22. August 2021
Meditation

Foto: istock

Der Rückspiegel ist klein

Ein Freund lud mich ein, mich auf den Fahrersitz meines Wagens zu setzen, und forderte mich auf: „Beschreibe die Windschutzscheibe!“ Ich: „Sie ist durchsichtig und sehr breit, fast so breit wie das ganze Auto.“ Seine zweite Aufgabe: „An der Windschutzscheibe ist der Rückspiegel befestigt. Beschreibe den Rückspiegel!“ Und meine Antwort: „Er ist klein und spiegelt mir das, was hinter meinem Wagen passiert.“
„Na siehst du“, sagte mein Freund, „jetzt verstehst du ein wenig von der Philosophie eines Autos.“ Mein unwissendes Gesicht ließ ihn weitersprechen: „Ein weiser Mensch sagte einmal: Die Windschutzscheibe ist so groß und der Rückspiegel so klein, weil unsere Vergangenheit nicht so wichtig ist wie unsere Zukunft.“
Es geht also nicht darum, die Vergangenheit zu vergessen. Nein, ich soll sie sogar ständig im Auge behalten. So wie beim Autofahren immer wieder der Blick über den Rückspiegel nach hinten schweift, so ist die Vergewisserung, was meine Vergangenheit und damit auch meine Gegenwart und Zukunft prägt, ein wichtiger Teil auf meiner Lebensautobahn.
Doch es gibt auch den falschen Blick in die Vergangenheit. Es ist so, als wenn ich beim Autofahren nur noch in den Rückspiegel schauen und vergessen würde, nach vorn zu blicken. Was dann passiert, ist klar …
Die Fixierung auf den Rückspiegel meiner Vergangenheit kann in einer doppelten Weise geschehen. Einmal kann ich diese Vergangenheit fasziniert betrachten mit der Empfindung: Früher war alles besser. Mein getrübter Blick hat die Probleme der Vergangenheit verdrängt und lässt nur noch einmal gewesenes Glück in Erscheinung treten. Die Fixierung auf die Vergangenheit kann aber auch durch leidvolle Erfahrungen entstehen. Ich wurde so verletzt, gedemütigt oder meiner Hoffnungen beraubt, dass kein Hoffnungsschimmer für die Zukunft übrig ist. Dann habe ich das Gefühl, es kann gar nicht besser werden.
Doch es gibt auch die Verführung, nur noch nach vorn zu schauen. Dann vergesse ich mein bisheriges Leben, werte es ab und will alles nur anders machen. Eine Zukunft, die die Vergangenheit vergessen hat, kann zur Orientierungslosigkeit werden. Umgekerht erstickt eine Vergangenheit, die nicht offen ist für die Zukunft, an sich selbst. Das rechte Maß der Blicke durch die Windschutzscheibe und den Rückspiegel bringt also eine gute Fahrt ins Leben.

aus: hubertus brantzen,
40 spuren auf dem weg ins leben, herder

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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