Expedition Fastenzeit | Teil 06
Am Seil, an dem das Leben hängt

Wir Menschen müssen atmen, um leben zu können. Nur: Es gibt Momente, die das freie Atmen erheblich erschweren: Geldsorgen, Zukunftsängste, Ignoranz, Krankheit, Lügen und Tod…, das sind nur einige Beispiele. Bei uns war es ein Bergunfall auf einer 5-plus-Kletterroute am Hochthron in Salzburg-Werfenweng.

Ein Familienausflug hätte es werden sollen, an einem traumhaften Augusttag. Die Schöpfung mit all ihrer Pracht um uns herum – und wir mittendrin! Ein Klettererlebnis mit den erwachsenen Söhnen Jakob und Stefan in einem Gebiet, das uns nahezu unbekannt war. Dabei die Ruhe und Unberührtheit der Natur, das Naschen von Heide- und Moosbeeren, fast eine Art biblische Tabor-Erfahrung.

Dann die Entscheidung an der Weggabelung, dass die Söhne allein klettern und die Eltern am Fuße des Berges die Wanderwege erkunden. So konnten wir unseren beiden Söhnen bei der doch schweren Kletterpartie zusehen und ihren Aufstieg mit Fotos dokumentieren.

Der Tag schritt fort, und die Zeit blieb nicht stehen. Wir mussten erfahren, wie brüchig der Fels eigentlich ist, gleich dem Leben, in dem wir uns befinden. Da das Wetter schlechter wurde, entschlossen sich die Burschen zur Umkehr. Das heißt: in der Wand abseilen und sich dabei auf die Haken verlassen müssen, die von anderen zur Sicherheit gesetzt wurden, und auf das eigene Seil, an dem das Leben hängt.

 

Der Fall
35 Meter über dem sicheren Boden bricht der Fels aus. Da ich zur Dokumentation der Abseilstrecke genau darunter stehe, fällt mir Jakob regelrecht entgegen, praktisch im freien Fall. In Bruchteilen von Sekunden kann und darf man entscheiden, welche Maßnahmen man setzen kann, um das Ärgste zu verhindern. Weglaufen, die Absturzstelle frei machen? Kommt nicht in Frage! Auffangen, mit all den beschränkten Möglichkeiten? Dabei wird man selbst erschlagen. Die Absturzenergie abfangen und ableiten, das war die einzige Möglichkeit für uns beide.

Zuerst trifft der fallende Körper nach 15 Metern seitlich auf mich auf. Dadurch kommt er in eine Drehbewegung und schlägt danach mit voller Wucht auf einem schmalen Grat, auf dem ich mich befinde, auf. Der Körper wird wegkatapultiert, und der freie Fall geht weiter, bis sich sein Bruder Stefan – weitere 20 Meter unterhalb – dem Unglück in den Weg stellt und Jakob vor weiterem Schaden und einem weiteren Absturz bewahren kann.

 

Die Rettung
An der Absturzstelle war die Familie wieder vereint. Stefanie organisierte sofort weitere vier Ersthelfer. Dieses Team verstand es, die richtigen Maßnahmen zu setzen. Dann ein weiteres Wunder: keine offenen Verletzungen, obwohl der Helm mit Dellen übersät war. Mein Sohn war ansprechbar, allerdings: Wirbel verletzt, Schlüsselbein gebrochen, und voller Schmerzen. Ein Hubschrauber konnte die Bergung noch durchführen, obwohl ein Gewitter bereits im Anzug war. Wir verließen die Absturzstelle und stiegen ab. Anschließend dann die Befragung durch die Alpinpolizei.

 

Die Zeit danach
Zwei Monate später stiegen wir im Familienverband wieder zur Absturzstelle auf, um für dieses „Wunder des Lebens“ zu danken. Diese zwei Monate waren für uns alle nicht einfach. Ein Stück „harter Arbeit“ lag hinter uns. Das Leben im Jetzt wurde wichtig, mit vielseitigen Erfahrungen und vielen Momenten, in denen wir zusätzlich spüren konnten, was Leben bedeutet.

Kurz darauf machten wir eine gemeinsame Wallfahrt nach St. Wolfgang. Seither ist der dahinter liegende Falkenstein eine unserer „Lieblings-Klettertouren“ geworden. Warum kam das alles so? Hätten wir uns anders entscheiden sollen? Hätten wir anders handeln können? Wozu? Zunehmend wichtiger wurde uns aber die Frage: „Wozu?“ Was wir erlebt haben, gab uns Kraft, die Last und den Schmerz zu ertragen. Es half uns, manches zu verstehen, wenn auch nicht immer. Wir haben eine Erfahrung gemacht und wissen heute ein Stück besser, was mit diesem Spruch gemeint sein könnte: „Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.“

 

Vertrauen
Vor allem haben wir erfahren: Wir sind auch im Moment einer Gefahr in der Lage – und haben dann auch die notwendige Zeit – zu reagieren, und das ohne Angst.

Das Vertrauen ist in uns gewachsen. Genau diese Erfahrung, dass wir nicht Angst haben müssen und dass wir, wenn es Zeit ist, auch handeln dürfen, ja sogar handeln müssen, um weiteren Schaden zu verhindern, ist für mich die eigentliche Gotteserfahrung. Er lässt uns nicht einfach fallen. Das lässt uns gelassener leben.

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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