Positionen - Elisabeth Wimmer
Von Bröseln und Eis

Es ist eine der liebenswertesten Filmszenen, die ich kenne: Im Schaufenster eines Autohauses sitzen in einem Cabrio zwei Männer mittleren Alters, grau gekleidet und von unauffälligem Aussehen. Sie erzählen einander von den Erlebnissen ihres Tages. Niemand bemerkt sie, weil sie – so wollen es Drehbuch und Regisseur Wim Wenders − Engel sind und damit unsichtbar für die (erwachsenen) Menschen. Sie begleiten die Menschen in Freude und Schmerz, sie teilen deren Lebensmomente mit inniger Hingabe.

So ist denn auch ihr engelhaftes Tagebuch voller innerer Augenblicke: Ein Passant spürt eine flüchtige Nähe und hält kurz inne. Ein lebensmüder Mensch klebt Sondermarken auf seine Abschiedsbriefe. Ein Schüler beschreibt dem Lehrer, wie ein Farn aus der Erde wächst …
Etwas vom Innenleben der Welt fassen die Engel im Auto-Schauraum in Worte.

Und ich stelle mir vor, was sie heute vom Innenleben unserer Welt spüren und notieren (würden): In der Steiermark legt sich ein Hund auf das T-Shirt seines Herrls, während er auf dessen Rückkehr wartet. Bei einer neu entdeckten Froschart tragen die Männchen die Kaulquappen an ihrem Körper. Eine Eislawine stürzt in den peruanischen Cordilleras vom Gletscher in den Stausee nahe der Kleinstadt und löst eine Flutwelle aus. Ein acht Monate altes Mädchen nimmt zum ersten Mal ein Brösel zwischen Zeigefinger und Daumen …

Der Film heißt „Der Himmel über Berlin“. Und unser „Berlin“? Ob hier Engel – gerade jetzt – unsichtbare Lebensmomente in ihrem Engeltagebuch notieren, in ihre himmlische Kommunikation hineinnehmen? Es wäre ein großes Glück.

Elisabeth Wimmer

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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