Positionen - Leopold Neuhold
Verführt - begnadigt

Im Staatsgefängnis von Texas betritt der Wärter die Todeszelle und verkündet dem Verurteilten, dass ihn vor der Hinrichtung ein Gourmetmenü erwartet: mit Hummercocktail als Vorspeise, getrüffeltem Rib-Eye-Steak und exquisiten Beilagen, mit Pfirsich-Melba als Nachspeise und allerlei anderen Spezialitäten, und zum krönenden Abschluss eine exzellente Havannazigarre. Der Todeskandidat strahlt über das ganze Gesicht, wird dann aber plötzlich ernst und stößt hervor: „Hoffentlich kommt da keine Begnadigung dazwischen!“
Angesichts solcher Leckerbissen erscheint eine Begnadigung sicher manchem als Bedrohung. Wir haben unser Leben so eingerichtet, dass wir, wie wir meinen, sehr gut leben. Dazu kommt noch, dass es viele Angebote gibt, viele Versprechungen von verschiedensten Seiten, die uns den Blick über diese Versprechungen hinaus verstellen. Da zeigt sich dann keine Alternative. Und für viele ist es ja verführerisch, keine Alternative zu haben, sie fürchten vielmehr, dass etwas dazwischenkommen könnte, was eine Änderung des vielleicht schlimmen Verlaufes, der sich aber als Gourmet-Menü darstellt, bedeuten könnte.
Bleibt nicht unser Blick am Hosianna des Palmsonntags hängen, an der vermeintlichen Tatsache, dass so alles gut ist? Angesichts eines angenehm eingerichteten Lebens im Falschen fürchten wir oft, dass die Begnadigung des Osterfestes dazwischenkommt, weil wir uns schon so in das Vorläufige mit verdrängtem schlimmem Ende „hineingehofft“ haben. Sind wir bereit, uns dieser Verführung durch die Henkersmahlzeit zu entziehen?

Leopold Neuhold

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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