Positionen - Elisabeth Wimmer
Es sind 100 Jahre, Vater

Vor einigen Tagen wäre mein Vater 100 Jahre alt geworden. Geboren in den Mangel nach dem Ersten Krieg, das Brot zu Hause sorgsam gehütet.

Der Horizont der kargen Kindheit weitet sich im Jesuitengymnasium; sein Berufswunsch Priester ermöglicht ihm diese Schulbildung. Horizonterweiterung ist aber gerade nicht sehr gefragt im Land. Kurz vor der Matura: eine kleine Odyssee durch mehrere Ordensschulen, die jeweils politisch bedingt zugesperrt werden. „Kriegsmatura“, Jugend vereinnahmt, zum Kriegsdienst eingezogen. Erwachsen im freien Fall. Überlebt. Sprachlos.

Zurückgekehrt. Beruflich Recht und Ordnung, Familie, 70er-Jahre, anerkannt im Dorf, kein Eigentum. Die Ölkrise geht nahezu spurlos an ihm vorüber, er hat kein Auto. Krisen. Vaterstolz, Opa-Freuden. Im Alters-Vergessen kehren die Kriegserlebnisse wieder. – Ein Leben wie viele in seiner Generation. Anständig, katholisch, gesellig und sprachlos, geschüttelt.

2022: Bei der Pfingstvigil singt die Schola: „Dass die neue Welt noch kommen mag, wo Brot genug und Wasser strömt für alle.“ Worte von Huub Oosterhuis. „Wir werden uns nicht sinnlos mühen, nicht Kinder gebären für das Entsetzen, der Wolf und das Lamm werden weiden zusammen, wir haben den Krieg verlernt …“ Der Gesang gibt der Jesaja-Vision eine schonungslose Poesie, der Schmerz ruft sich aus im Kirchenraum, der sich für den Heiligen Geist öffnen will. Den Geist der Sprache.

Womöglich hat mein Vater damals Jesaja gelesen, womöglich den Schmerz in der Vision wiedererkannt. Wie wir.

Elisabeth Wimmer

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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