Mutworte - Elisabeth Rathgeb
Die Trotzdem-Blüten

Foto: Vanessa Rachlé

Wenn im Jänner der Garten unter einer weißen Schneedecke liegt und das Thermometer frostige Minusgrade zeigt, halte ich Ausschau nach den ersten Frühlingsboten. Ich erwarte sie sehnsüchtig, denn die Tage sind kurz und die Nächte lang. Und endlich ist es dann soweit: Unter der alten Buchenhecke sprießen die ersten grünen Spitzen der Schneeglöckchen aus dem Boden. Es ist jedes Jahr wieder ein kleines Wunder – in Schnee und Eis wächst etwas Neues.

Gerade am Jahresanfang hat das Schneeglöckchen für mich eine starke symbolische Kraft: Es steht für einen mutigen Neuanfang, für Hoffnung und Widerstand, für Lebenskraft und Ausdauer. Der Prophet Jesaja kommt mir in den Sinn, die Stelle, in der Gott sagt: „Siehe, nun mache ich etwas Neues. Schon sprießt es, merkt ihr es nicht?“ (Jes 43,19)

Früher habe ich sie oft übersehen, die ersten Frühlingsboten in unserem Garten. Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, im Schneegestöber nachzuschauen, ob da vielleicht etwas wächst – geschweige denn blüht. Und so ist es vielleicht auch in winterlichen Zeiten im Leben, die sich nach Stillstand, Kälte und Unsicherheit anfühlen: Das Neue ist schon da. Auch wenn es noch unter einer dicken Schneedecke verborgen liegt. Das Vertrauen darauf, dass es sich zeigen wird, hilft mir in solchen Zeiten des Übergangs. Es verkürzt sie zwar nicht und nimmt ihnen nichts von ihrer Schwere. Aber es gibt Kraft, die Wartezeit zu überbrücken. Zugleich schärft es meine Aufmerksamkeit und macht mich wach: Was will jetzt wachsen? Wofür ist die Zeit reif?

Aus: Elisabeth Rathgeb: Kopfsalat mit Herz. Eine spirituelle Entdeckungsreise durch den Garten. Verlag Tyrolia. Die Autorin ist Caritas-Direktorin in Tirol.

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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