19. Sonntag im Jahreskreis | 7. August 2022
Meditation

Foto: Gábor Adonyi/Pixabay

Auf einem Logenplatz?

1950 wurde er geboren. So heißt es. So steht es da. Schwarz auf Weiß. Geborenwerden. Das heißt: ein Schicksal haben. Oder auch: eine eigene Geschichte – auch wenn man selber, wie es aussieht, keine Zeile daran mitgeschrieben hat. Schreiben, selber schreiben, etwas Eigenes, das kam erst viel später. Als es für vieles schon zu spät war. Geborenwerden. Das heißt auch: einer von vielen sein, und unter so vielen doch genau dieser Eine, Verwechslung ausgeschlossen. Heißt: eine Identität haben, gleich einem rohen Rahmen. Kontur, Beschaffenheit und Form steuert dann nach und nach das Leben bei, dieses geliebt-verhasste, einzige Leben, das man für sich erwirbt ganz ohne Zutun, beim Geborenwerden. Dieses Leben, in das man hineinwachsen soll und aus dem man doch zugleich Augenblick für Augenblick herauszuwachsen meint, das man zubringt mit Warten und Eilen und das so schlecht sitzt wie ein Mantel, den man im Laufen zu Ende knöpft. Ein Mantel, der manchmal so gar nicht wärmen will.
Justizbeamter war er jahrelang. So viel steht fest. (...) Er selber, so viel weiß man, kam nie in Haft. Und verlor doch irgendwann die Haftung fürs eigene Dasein. Eines Tages, so hat es den Anschein, entglitt ihm sein Leben wie ein Stück Seife. Von diesem Moment an war auch das richtige Waschen manchmal ein Problem. Nicht so ein großes wie der Alkohol, das nicht, denn der sorgte schließlich schon früh für die Frühpension. (...)
Ein Zuhause haben ist eine Sache. Sich im eigenen Leben zu Hause fühlen eine andere. Und es sind unendlich viele, die wohl ein Zuhause haben, aber dennoch kein Daheim. Er, so ist es notiert, hatte bald weder das eine noch das andere mehr. Er wurde delogiert, das ist vermerkt. Delogiert, weil seine Wohnung umgebaut wurde. (…) Delogiert, was heißt das schon?! Da tut die Sprache so, als hätte man zuvor wirklich so was wie einen Logenplatz gehabt im Leben. Erste Reihe fußfrei, oder so. Und irgendwann noch nicht mal Schuhe …
Jetzt ist er schon gut ein halbes Jahrhundert alt. Das heißt auch: durchgehalten haben, überlebt haben, ein Schicksal haben, ein eigenes, wenn schon sonst nicht viel, aber doch: ein Schicksal, immer noch …

Andrea Sailer in: „Manns.Bilder. Vom Leben geschrieben – vom Gedanken belebt“ (Steir. Verlagsanstalt, 2003). Anlässlich des Jubiläums 10 Jahre VinziDorf wurden Autorinnen und Autoren eingeladen, die Lebensgeschichte einiger obdachloser Männer des Grazer VinziDorfes literarisch darzustellen. Der obige Text ist ein Auszug aus Andrea Sailers Beitrag „Vielleicht eine Geschichte oder Mutmaßungen entlang eines sehr lückenhaften biografischen Geländers“.

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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