12. Sonntag im Jahreskreis | 19. Juni 2022
Meditation

Das Hemd hat’s gesehen

Mein Urlaubshemd hatte ich vor 15 Jahren in Australien für ganz wenige Dollar gekauft. Seither ist es in vielen Ländern gewesen, hat Afrika, Asien, Nord- und Mittelamerika bereist und natürlich auch Europa.

Das Hemd hat unfassbar viel Leid gesehen. Es hat gesehen, wie in China Häuser zwangsgeräumt wurden, in denen Familien über Generationen ihre Heimat gehabt hatten, um Hochhäusern zu weichen, in denen Büros entstehen. Es hat in Russland bitterarme Menschen beobachtet, die in Scharen neben dem Bugatti der Oligarchen hungern. Waisenkinder, die sich zu zweit oder dritt ein Bett in kleinen afrikanischen Dörfern teilen, 6 oder 7 Jahre alt, ohne Eltern und mit einer kleinen Hand voll Mais für die nächsten drei Tage.

Das Hemd war aber auch Zeuge vieler kleiner und großer Momente der Hoffnung und Stärke. Es vergisst nicht den Blick der Kinderaugen, die begeistert die Einweihung einer neuen Schule oder einer Imfpstation mitverfolgen. „Wir sind nicht vergessen“, in Tansania oder im Buch von Kenia! In Vietnam – kommunistisch, arm – sah es in den Augen der vielen jungen Leute die Wissbegierde, den unbedingten Willen mit guter Bildung und etwas Glück ihr Leben und das ihrer Familien zu verbessern. In Kairo ging es über den Tahir-Platz, auf dem die arabische Welt aufgestanden ist gegen Despoten und für preisgünstige Lebensmittel. Es hat sich gefreut nach dem furchtbaren Krieg in Jugoslawien wieder unbefangen durch Kroatien oder Slowenien zu gehen und zu sehen, dass auch hier Europa friedlich zusammenwächst.

Wir alle haben ein unglaubliches Glück, wie auch immer wir unser persönliches Schicksal empfinden mögen, genau hier und genau jetzt hier leben zu dürfen.Wie würde es uns gehen, wenn wir 800 oder 1000 Kilometer von hier entfernt leben würden – oder 100 Jahre früher oder später? Hätten wir Frieden? Würden wir jeden Tag satt? Wären Schule und Medizin Selbstverständlichkeit?

Es geht uns so gut, dass wir regelmäßig über Teilen nachdenken sollten. Jeder nach seinen Möglichkeiten kann etwas hier vor Ort oder irgendwo in der Welt für andere tun. Eine Stunde pro Woche mit der allein lebenden Nachbarin oder in den vielen Möglichkeiten des Ehrenamtes, durch die Übernahme von Patenschaften oder was immer der Einzelne einbringen kann, um ein Zeichen zu setzen mit dem Ziel, dass keiner vergessen wird.

Peter Hoppe, in: Schau mir auf den Mantel, Kleines – Von Mänteln und vom Teilen, Bonifatius 2016.

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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