6. Sonntag im Jahreskreis | 13. Februar 2022
Meditation

Foto: Neuhold

Ein Gefühl ist wie ein Kind

Liebe ist eine Kunst, und Zärtlichkeit will gelernt sein. Wer hin- und herspielt von einer Erfahrung zur anderen, wird, wenn nicht wirklich Liebe ihn am Ende ergreift, stumpf gegen die Liebe.
Lieben lernen braucht Zeit. Denn am Anfang liebt jeder im Anderen sein eigenes Bild. Er schaut in einen Spiegel. Wer aber nicht am Spiegel vorbei den Anderen wahrnimmt, kann ihn nicht lieben.
Zeit aber ist nötig, einander Zeit lassen. Liebe empfangen lernen ist nötig. Was wir finden in jungen Jahren, das bleibt uns für die lange Zeit: zart sein, ohne alles zu fordern. Denn die Zartheit wird bleiben, wenn wir gemeinsam alt werden. Was am Abend bleibt, stiften die Liebenden mit der Zartheit, die das erste Morgenlicht weckt.

Am Morgen gleichsam, in jungen Jahren, werden es Stimmungen sein, Träume, Gefühle, die uns erfüllen. Mit der Sehnsucht werden wir Freundschaft schließen, mit Freude und Trauer, mit Furcht und träumerischer Phantasie. Gefühle kommen, bewegen und treiben und wirbeln uns, und was daran schön ist und stark, wird uns Licht bringen und Trost, wird zur lebendigen, fröhlichen Musik unserer eigenen Seele in uns. Gefühle aber, die Geschenke des Morgens, öffnen uns nicht nur den Zugang zu uns selbst, sondern auch den zum anderen Menschen. Wir täuschen uns ja, wir Heutigen, die meinen, es sei das Denken, das uns zu Menschen macht.
Ein Gefühl ist wie ein Kind, das in uns lebt und weint und lacht, Hunger hat und bemerkt sein will. Wer zu seinem Gefühl zu oft sagt: Sei still, ich habe jetzt keine Zeit für dich – dessen inneres Kind sitzt eines Tages in einer vergessenen Ecke und trauert, wird krank und verkümmert.

Mit Gefühlen soll man umgehen, wie man mit einem Kind umgeht. Man sieht ihm freundlich zu und aufmerksam. Man hört, was es klagt, man leidet mit ihm, wenn es leidet. Denn Gefühle sind die lebendigsten Kräfte in uns, und keine andere Kraft in uns bringt so Lebendiges hervor.
Ein Kind hat auch Wünsche, berechtigte, gute, schöne, die nicht zu erfüllen sind. Dann nehmen wir es auf den Arm und sind mit ihm traurig.
Aber wir schicken es nicht weg. Ein Kind kann verstehen, dass es nicht alles haben kann. Aber lieben muss man es, ihm Mut geben und Fröhlichkeit und Raum, seine Kräfte zu regen.

Aus: Jörg Zink, Was bleibt, stiften die Liebenden, Kreuz verlag

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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