Elisabeth Wimmer - Positionen
Was macht der Mut mit seiner Angst?

Es gibt die märchenartige Geschichte (im letzten Sonntagsblatt unter „Leserbriefe“ zitiert) über die Cholera, die mit dem Dorfheiligen um Menschenleben feilscht. Das Ergebnis: Fünf Einwohner dürfe sie aus dem Leben reißen. Einverstanden, ausgemacht. „Warum starben dann aber 500 Menschen?“ „495 starben an Angst.“
Dieses Märchen kann Empörung hervorrufen, speziell jetzt, da wir uns um viele Menschen Sorgen machen, weil eine nicht vertraute Krankheit ihr Leben bedroht und schon viele aus dem Leben gerissen hat. Redet die Geschichte die Krankheit klein, verharmlost sie das Leid? Trauert sie denn nicht um die Toten? Gibt sie ihnen gar selbst die Schuld an ihrem Tod? Verbietet sie, Angst zu haben?
Mir erzählt die Geschichte von Lebensmut. Vom Mut des Dorfheiligen, der der Krankheit Auge in Auge gegenübertritt, statt passiv zu warten, was die Epidemie wohl anrichten werde. Wir erleben derzeit den Mut vieler, Grenzen zu überschreiten und Grenzen zu setzen: von ÄrztInnen und Krankenpflegepersonen, politisch und gesellschaftlich Verantwortlichen, Menschen aus verschiedensten Berufen. Und unseren Mut, uns an Grenzen zu halten – auch wenn das unseren Alltag durcheinanderwürfelt, Paare trennt, Existenzen finanziell bedroht.
Das Märchen weist zudem auf etwas hin, das unser „Dorf“ jetzt ebenso braucht: auf das Gespür für Lebenskräfte, das um die tiefen Brunnen weiß und den Mut nährt. Er tut, was er kann, um Leben zu retten, er legt die Hände nicht in den Schoß. Seine Angst trägt er mit sich. Er vertraut sie in den Kräften des Lebens an.

Elisabeth Wimmer

Autor:

Elisabeth Wimmer aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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