Positionen - Christian Teissl
Unverloren
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Man erlebt es immer wieder: Plötzlich zeigen sich haarfeine Risse im Gefüge einer Freundschaft, und man weiß nicht, wie und wodurch sie entstanden sind. Vielleicht war es eine Frage, die ohne Antwort geblieben ist, vielleicht ein unaufgeklärtes Missverständnis, vielleicht eine leise Enttäuschung über eine unterbliebene Geste, ein falsches Wort, ein Zuwenig oder ein Zuviel des Guten. Es lässt sich nicht sicher sagen, man spürt nur – der andere rückt von einem ab, und indem man es spürt oder zu spüren glaubt, geht man selber zu ihm auf Distanz. Aus Einklang wird Dissonanz, aus Vertrautheit Befremden, an die Stelle des Gesprächs tritt vieldeutiges Schweigen. Man vergräbt sich darin, und rasch sind hundert Gründe gefunden, darin zu verharren, einen Tag und noch einen, eine Woche und noch eine weitere.
Und dann auf einmal trifft man sich wieder, ungeplant, unverhofft, und alles, was sich im Raum des Schweigens aufgetürmt hatte an leisem Verdacht und lautem Verdruss, zerfällt augenblicklich zu Staub. Man fällt sich um den Hals, man ist erleichtert, man fühlt sich befreit. Denn schöner noch als das Glück, Verlorenes wiederzufinden, ist die Erkenntnis, einander nie wirklich verloren zu haben.
Christian Teissl
teissl@mur.at
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
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