Positionen - Elisabeth Wimmer
Im Dämmerlicht

Ich mag die frühherbstliche Abenddämmerung. Wenn das weiche Licht nicht mehr von oben kommt, sondern quasi Aug in Aug mit Lehm und Laub und Landschaftslinien ganz neue Farben aus den Dingen holt.

Die tiefstehende Sonne lässt mich an das Gespräch mit Anne denken, unserer Unterkunftgeberin im sehr nördlichen Nordeuropa. Als ich ihr an einem Sommerabend begegnet bin, hat uns die Sonne auch nachts nie verlassen. Uns Fremdlinge hat das sehr berührt: Es waren Tage, die kein Ende nahmen.

Auf meine sommerverliebte Frage, wie sie und die Bewohner ihrer Stadt die lange Dunkelheit in den Wintermonaten denn aushalten könnten, sagte Anne: Ja, sie kenne schon Menschen, die im Winter unter dem Mangel an Sonnenlicht leiden und Mühe haben, Kräfte und Wohlbefinden in dieser Zeit zusammenzuhalten. Ihr selbst mache das glücklicherweise nicht so zu schaffen, für sie sei es eher eine Frage der Sichtweise: „Mørketid“ sagt man in der norwegischen Sprache zur Polarnacht. Das bedeutet „Dunkelzeit“. Die Samen, das Urvolk der Region, haben in ihrer Sprache eigene Worte dafür. Zum Beispiel, Anne übersetzt es für mich, „farbige Stunden“. „Denn weißt du“, sagt sie, kaum kommt die Sonne aus der Tiefe dem Horizont näher, kaum gleitet ein wenig Licht am Erdschatten vorbei in Richtung Nachthimmel, locke es einzigartige Farben aus Luft und Landschaft.

Das Gespräch begleitet mich in den Herbst. Und, ja: Auch ich weiß um Menschen, deren Leben momentan „mørketid“ heißt, eine Dunkelzeit, die man nicht farbig schönreden kann. Nur farbige Stunden herbeisehnen.

Elisabeth Wimmer

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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