Mutworte - Christa Carina Kokol
Ein Strich, für den es sich zu leben lohnt

Foto: Foto: Neuhold

Es ist schon einige Jahrzehnte her, als ich an der Hand meiner Mutter am Felsensteig des Grazer Schlossbergs eine stark beschädigte Straßenlaterne sehen musste. Ja, musste, denn die Überreste des Lichtkörpers – die tausend Scherben am Boden – machten mich sehr traurig. Ich kann mein Empfinden von damals heute noch gut nachfühlen. Ist es die Sehnsucht nach einem Leben ohne Bruchstücke von Gläsern und Herzen, ohne Scherben, die verletzen und schmerzen, ohne Krankheit und Tod …?

Im Film „Moulin Rouge“ will sich der französische Maler Toulouse Lautrec in einer Depression das Leben nehmen. Schon hört man das Leuchtgas zischen und ausströmen. Da fällt sein Blick auf eines seiner Gemälde, in dem er einen Fehler bemerkt. Er rafft sich hoch, taumelt hin, dreht den Gashahn ab und hebt mit einem Pinselstrich die Harmonie und Ausdruckskraft des Bildes. Durch die Hingabe an eine Aufgabe, die nur er als Schöpfer des Werkes ausführen kann, lohnt es sich für ihn – trotz allem – zu leben.

Auch wir können unser unvollkommenes Leben, unsere oft aus den Fugen geratene Welt mit einem „Pinselstrich“ verbessern. Mit einem „Pinselstrich“, der für irgendwas oder irgendwen gut oder notwendig ist; eine Aufgabe, die sich lohnt, weil wir in diesem Fall unvertretbar sind. Und so wird auch die Unvollkommenheit des Lebens sinnstiftend für unser Dasein. Wozu würden wir auf Erden wandeln, wenn alles perfekt wäre?

Christa Carina Kokol
ist dipl. psychotherapeutische Beraterin in Logotherapie und Existenzanalyse nach Viktor E. Frankl.

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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