Positionen - Elisabeth Wimmer
Auf dem Seil

Frühmorgens in Manhattan: Ein paar Menschen schauen nach oben zu den Türmen des World Trade Center. Es ist der 7. August 1974, und die Twin Towers stehen noch unfertig und einigermaßen unhinterfragt an ihrem Platz. Doch dazwischen, in gut 400 Metern Höhe, geht jetzt jemand auf einem gespannten Seil einige Male von dem einen Gebäude zum anderen und zurück, legt sich gar zwischendurch auf das Seil.
Diese Geschichte ist wahr und tatsächlich passiert. Der Franzose Philippe Petit hatte seinen Auftritt jahrelang penibel geplant. Sein späteres Buch wurde auch zur Grundlage eines Dokumentarfilms („Man on Wire“). Kürzlich wurde in der „Zeit“ an diesen Seilgang erinnert, in einem Beitrag über Vertrauen.
Seiltänzer mögen in uns die Vorstellung einer abgehobenen Leichtigkeit hervorrufen, von etwas Traumwandlerischem. Man sollte jedoch die dem Bild innewohnende Poesie nicht mit Sentimentalität oder Realitätsferne verwechseln. Artistisches Training braucht Bodennähe, auch das für den Seilgang in luftiger Höhe. Artisten arbeiten äußerst verbindlich mit Körper und Geist, sie trainieren diszipliniert. Ein Seiltänzer mag vielleicht ein schräger Vogel sein, ein Träumer oder Luftschlossbauer ist er sicher nicht. Seine Schritte übt er hochkonzentriert zu ebener Erde und in luftiger Höh’.
Glücklich, wer in der Seele einen Seiltänzer nährt, der – kein Träumer – beides zu lehren vermag: die bodennahe treue Übung gut gesetzter Schritte und den konzentrierten Mut zu noch unabsehbaren Wegen, die uns höher und weiter führen.

Elisabeth Wimmer

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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