Slowakei
Prophetisch und mitfühlend

„Ihr gehört zum Team“, rief Papst Franziskus den Menschen in Lunik IX, der größten Roma-Siedlung 
der Slowakei, zu. | Foto: KNA
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  • „Ihr gehört zum Team“, rief Papst Franziskus den Menschen in Lunik IX, der größten Roma-Siedlung
    der Slowakei, zu.
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Der Papst in der Slowakei. Franziskus benannte Missstände, motivierte zu Dialog und setzte Zeichen gegen Antisemitismus.

Papst Franziskus besuchte zwischen 12. und 15. September unser Nachbarland Slowakei. Ein spannendes Programm zwischen Bratislava, Prešov, Košice und dem Wallfahrtsort Šaštín spannte den Bogen für Begegnungen mit VertreterInnen aus Politik, Kirche, der Zivilgesellschaft, Ökumene und von Sozialeinrichtungen. Der Papstbesuch ist nicht zuletzt den Bemühungen der slowakischen Präsidentin Zuzana Čaputová zu verdanken. Sie tritt unerschrocken für Menschenrechte, Demokratie und europäische Werte ein.
Was für ein Land hat Papst Franziskus vorgefunden? Es ist ein Land, dass trotz langer Geschichte erst seit 1993 als eigenständiger Staat neu auf der Landkarte Europas aufscheint. 30 Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus sind die wiedererlangte Freiheit und Demokratie unter Druck geraten: eine zerstrittene Regierung, Korruption auf allen Ebenen, die unbewältigte Pandemie. Daraus resultiert eine zutiefst gespaltene Gesellschaft, die das Vertrauen in den Rechtsstaat verloren hat. Die Kirche hat sich hinter den Kirchenmauern verschanzt, die Kommunikation mit der Welt von heute fällt ihr schwer.

Kirche ist keine Machthaberin
Mit bemerkenswerter Präzision ist Papst Franziskus auf all diese Missstände eingegangen. Mehrfach betonte er den Wert der Freiheit. Der Sehnsucht nach alten Sicherheiten, wo es gereicht hat, ein „wenig Brot zu haben“, erteilte er eindeutig eine Absage. Seine Vorstellung von Kirche skizzierte er in eindringlichen Worten: „Die Kirche ist keine Festung; sie ist keine Machthaberin, keine hoch erhabene Burg, die auf die Welt distanziert und überheblich herabblickt … Die Kirche muss demütig sein, wie es Jesus war.“ Um dieser Aufforderung gerecht zu werden, seien Freiheit, Kreativität und Dialog unumgänglich.

Unweit des Martins-Domes in Bratislava traf Papst Franziskus an jener Stelle, wo sich das jüdische Viertel befand, mit Vertretern der jüdischen Gemeinde zusammen. Die Synagoge wurde Ende der 1960er Jahre im Zuge der Errichtung einer Brücke abgerissen. Die Geschichte der Verfolgung der jüdischen MitbürgerInnen ist ein dunkles Kapitel in der Geschichte des jungen Staates. In der Zeit von 1939 bis 1945 mit dem katholischen Priester Jozef Tiso an der Spitze des Landes wurden über hunderttausend slowakische Jüdinnen und Juden ermordet. Eine Distanzierung seitens der katholischen Kirche ist bis heute ausgeblieben. Umso wichtiger war die klare Absage von Papst Franziskus an jegliche Art von Antisemitismus.

Beim abschließenden Gottesdienst im Wallfahrtsort Šaštín mit 50.000 Mitfeiernden hat Papst Franziskus die Kirche aufgefordert, auf dem Weg zu sein, prophetisch und mitfühlend zu sein. Zur Überraschung vieler war der abgesetzte Erzbischof Bezák unter den Konzelebranten. Bemerkenswert war auch, dass eine Fürbitte in der Sprache der Roma vorgetragen wurde.

Agnes Truger

Im Originalton

Ein geschwisterliches Europa mit christlichen Wurzeln
Liebe Brüder und Schwestern!

Hier, im Herzen Europas, stellt sich die Frage: Haben wir Christen nicht ein wenig den Eifer der Verkündigung und die prophetische Kraft des Zeugnisses verloren? Ist es die Wahrheit des Evangeliums, die uns befreit, oder fühlen wir uns frei, wenn wir Komfortzonen einrichten, die es uns erlauben, uns selbst zu verwalten und ohne besondere Rückschläge einfach ruhig weiterzumachen? Und haben wir, wenn wir uns mit Brot und einigen Sicherheiten begnügen, nicht vielleicht den Schwung bei der Suche nach der von Jesus beschworenen Einheit verloren, einer Einheit, die gewiss die reife Freiheit starker Entscheidungen, Verzicht und Opfer erfordert, aber Voraussetzung dafür ist, dass die Welt glaube? Wir sollten uns nicht nur für das interessieren, was für unsere einzelnen Gemeinschaften nützlich erscheint.

Die Freiheit unseres Bruders und unserer Schwester ist auch unsere Freiheit, denn ohne ihn oder sie ist unsere
Freiheit nicht vollständig.
Hier begann die Evangelisierung auf brüderliche Weise, und sie trug das Siegel der heiligen Brüder Kyrill und Methodius aus Thessaloniki. Mögen sie, als Zeugen eines noch geeinten und vom Eifer der Verkündigung entflammten Christentums, uns helfen, den Weg weiterzugehen und miteinander im Namen Jesu geschwisterliche Gemeinschaft zu pflegen. Wie können wir sonst auf ein Europa hoffen, das seine christlichen Wurzeln wiederentdeckt, wenn wir die ersten sind, welche die ursprüngliche volle Gemeinschaft vermissen lassen? Wie können wir von einem ideologiefreien Europa träumen, wenn wir nicht die Freiheit haben, die Freiheit Jesu über die Bedürfnisse einzelner Gruppen von Gläubigen zu stellen? Es ist schwierig, ein mehr vom Evangelium befruchtetes Europa zu fordern, ohne sich darüber Sorgen zu machen, dass wir auf dem Kontinent noch immer untereinander gespalten sind und uns nicht umeinander kümmern. Zweckmäßigkeitskalküle, historische Gründe und politische Bindungen dürfen keine unüberwindbaren Hindernisse auf unserem Weg sein.

Zur richtigen Zeit

Franziskus weckte Hoffnung beim Besuch einer Roma-Siedlung.

Ein Programmpunkt der Papst-Reise in die Slowakei sorgte von Anfang an für kontroverse Diskussionen – Papst Franziskus besuchte am Stadtrand von Košice die größte Roma-Siedlung der Slowakei mit ca. 6000 BewohnerInnen. Am Platz vor dem Salesianerzentrum in der Plattenbausiedlung Luník IX war die Stimmung den ganzen Nachmittag über fröhlich und begeistert. Mit einem bunten Programm aus Liedern, Gebeten und Gesprächen mit Roma und Nicht-Roma wurde der Papst herzlichst empfangen. „Ihr seid nicht am Rande, ihr gehört zur Kirche, zum Team“, leitete der Papst den Besuch ein.

Bei seiner Ansprache war zu spüren, dass der Papst die Probleme der Armut aus nächster Nähe kennt: „Menschen in Ghettos abzuschieben löst keine Probleme. Abgeschlossenheit führt zur Wut – der Weg führt über Dialog und Integration.“ Seine wichtigste Botschaft, an die ganze Gesellschaft gerichtet, lautete: „Ihr seid allzu oft mit Vorurteilen und unbarmherzigen Verurteilungen konfrontiert, mit Diskriminierung und beleidigenden Worten und Gesten. Dadurch sind wir alle ärmer geworden. Ärmer an Menschlichkeit.“

Der Besuch des Papstes in Lunik IX ist mehr als symbolisch. Für Priester, SozialarbeiterInnen und NGOs, die seit Jahren in etlichen Roma-Siedlungen tätig sind, war der Besuch eine wichtige Anerkennung ihrer Arbeit. Luník IX steht stellvertretend für alle Orte der Ausgrenzung, der bitteren Armut und des Versagens der Sozialpolitik eines Landes. Roma-Siedlungen wie diese gibt es in Europa viele. Der Papstbesuch kam zum richtigen Zeitpunkt. Während der Pandemie, als alle mit eigenen Problemen beschäftigt waren, verschwanden die Roma gänzlich aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit. Franziskus holt diese Menschen am Rand der Gesellschaft wieder in den Mittelpunkt. Bleibt zu hoffen, dass die Botschaft verstanden wird.

„Welthaus“ der Diözese Graz-Seckau unterstützt seit 20 Jahren Roma in der Slowakei. Ein zentrales Ziel ist die Stärkung ihrer gesellschaftlichen Teilhabe. In Schulungen werden Romnija befähigt, für ihre Anliegen einzutreten. In Kindergartengruppen bereiten sie die Kinder für den Schuleintritt vor. Zum größten Erfolg gehört, dass heuer kein Kind mehr in die Sonderschule gehen musste. Das Roma-Zentrum in Lipany konnte durch die Unterstützung von „Welthaus“ seine Bildungsangebote, die Beratung bei der Arbeitssuche und Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche ausbauen.

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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