Glaube
… haben sie gewartet

Engel der Hoffnung („Bedecke mich mit dem Grün deiner Hoffnung“), Kurt Zisler, 2019. | Foto: Zisler
  • Engel der Hoffnung („Bedecke mich mit dem Grün deiner Hoffnung“), Kurt Zisler, 2019.
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Ich hoffe, dass sie auch dir einst begegnen … Ein Blick auf die Schutzengel mit den Augen eines Liedermachers.

Wer sie einmal gehört hat, vergisst sie nicht: die Songs des frankokanadischen Dichters und Liedermachers Leonard Cohen, der sein Leben lang ein großer Suchender war. Die bekanntesten von ihnen – Suzanne, Bird on the Wire, Last Year’s Man – sind Ende der 1960er Jahre entstanden, zu einer Zeit, da auf der ganzen Welt die Jugend zu neuen Ufern aufbrach; sie tragen die Atmosphäre dieser Zeit unverkennbar in sich und haben sich doch als zeitlos erwiesen – jedes von ihnen eine poetische Nachricht von den Geschenken des Lebens.

Sisters of Mercy
Ein Song aus Cohens „klassischer Periode“, der mir immer wieder nach- und nahegeht und mich durch die Jahre begleitet, ist der Song von den „Sisters of Mercy“. Was genau Cohen damit meint, was oder wen er hier vor Augen haben mag – es bleibt letztlich ein Rätsel.
Wie jedes gute Gedicht lässt auch dieser Song viele unterschiedliche Deutungen zu, lässt sich als Liebeslied verstehen oder als Meditation, als eine moderne Großstadtlegende oder als Gebet. Wörtlich übersetzt bedeutet „Sisters of Mercy“ nichts anderes als „Schwestern der Barmherzigkeit“, kann aber auch – ein poetischer Kommentar des Autors deutet in diese Richtung – zwei Schwestern meinen, die plötzlich in das Leben eines Menschen treten und ihn aus einer existenziellen Sackgasse befreien. Wie auch immer, der Text adressiert sie nicht, spricht sie nicht direkt an, sondern erzählt von ihnen, legt in knappen Zeilen Zeugnis ab von ihrem Wirken.
Die erste Strophe lautet: „Oh, the Sisters of Mercy,/ They are not departed or gone./ They were waiting for me,/ When I thought that I just can‘t go on,/ And they brought me their comfort/ And later they brought me this song./ Oh, I hope you run into them,/ You, who’ve been travelling so long.“

Auf Deutsch bedeutet das, in freier, ungereimter Übersetzung: „Oh, die Schwestern der Barmherzigkeit,/ sie sind nicht auf und davon./ Wann immer ich dachte, ich kann nicht mehr weiter, / haben sie auf mich gewartet./ Und sie brachten mir Trost/ und später dann schenkten sie mir dieses Lied./ Oh, ich hoffe, dass sie auch dir einst begegnen,/ auf deiner weiten, weiten Reise.“

Die den richtigen Schritt gehen helfen
Als ich dieses Lied zum ersten Mal hörte, mit 18 Jahren, hatte ich den Glauben meiner Kindheit verloren und noch längst nicht wiedergefunden. Daher wäre ich damals auch nicht auf den Gedanken gekommen, in den „Sisters of Mercy“ das zu erkennen, was ich heute in ihnen erkenne, nämlich eine Metapher für die Engel, die einem im Laufe des Lebens begegnen, jene Schutzengel, die einem im entscheidenden Moment den richtigen Schritt gehen helfen und einen das richtige Wort sagen lassen.

Verborgen da
„They were waiting for me,/ When I thought that I just can’t go on“: Eine ungemein tröstliche Botschaft steckt in diesen zwei Zeilen, sprechen sie doch nicht etwa eine vage Hoffnung aus, sondern eine Erfahrung. Die Engel waren und sind immer da, wenn auch oft verborgen, verstellt und verschüttet durch tausenderlei. Man muss sie nicht rufen, man braucht nicht auf sie zu warten, nicht nach ihnen Ausschau zu halten in weiter Ferne; es genügt, ihre Nähe immer wieder neu zu erahnen und sie allen anderen, die ebenso unterwegs sind durch die Finsternisse dieser Welt, an ihre Seite zu wünschen: „Oh, ich hoffe, dass sie auch dir einst begegnen,/ auf deiner weiten, weiten Reise.“

Christian Teissl

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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