Interview mit Thomáš Halik
Wie die Kirche sich verwandelt

Tomáš Halik | Foto: Petr Novák, Wikipedia

Leere Kirchenbänke vielerorts sprechen eine deutliche Sprache. Die Christen leben in einer zunehmend säkularen Welt. Über die aktuelle Situation der Kirche und über ihre Zukunft sprach „Kirche bunt“ mit dem renommierten Soziologen und Theologen Prof. Tomáš Halík. Eine scharfsichtige Analyse und die Hoffnung auf ein Christentum, das seine Bestimmung für die Welt erfüllt.

Kirchenbänke bleiben vielerorts leer, die Jugend steht der Kirche überwiegend gleichgültig gegenüber. Geht es der Kirche in Tschechien bzw. in anderen europäischen Ländern ähnlich wie uns in Österreich?

Tomáš Halík: In weiten Teilen der Tschechischen Republik sind wir seit mehreren Generationen an die Entkirchlichung gewöhnt. Nach dem Ende der „harten Säkularisierung“ und einer kurzen Phase des Aufschwungs rund um den Fall des Kommunismus kam es zu einer „weichen Säkularisierung“ ähnlicher Art und mit ähnlichen Ergebnissen wie in den meisten westlichen Ländern.
In einigen Gebieten unseres Landes, in denen die Volksreligiosität lange Zeit vorherrschte (z. B. in Südmähren), vollzieht sich dieser Prozess nun mit Verzögerung, ebenso wie in den „traditionell katholischen Ländern“ Slowakei und Polen. Dort, wo die Kirchen auf diese Situation nicht vorbereitet waren und sich auf die Trägheit der Tradition verlassen haben, vollzieht sich der Prozess umso schneller und gründlicher. Polen erfährt derzeit die schnellste und gründlichste Säkularisierung.

Die Klimakrise zeigt uns erschreckende Szenarien. Die Gletscher schmelzen nicht nur ein wenig dahin, sondern in atemberaubender exponenzieller Steigerung. Kann man das auch auf kirchliche Entwicklungen übertragen?

Halík: Ja, Ihre Metapher passt in vielerlei Hinsicht. Das soziokulturelle Klima hat sich verändert, und die Art des Christentums, die einem großen, kalten, unbeweglichen Eisberg glich, schmilzt rasch.
Aber wir können die Eisberg-Metapher auch anders verwenden. Der Psychiater C. G. Jung verglich die menschliche Psyche einmal mit einem Eisberg: der sichtbare rationale Teil (das „Bewusstsein“) ist sehr dünn; der massivs­te und wichtigste Teil liegt in den Tiefen des persönlichen und kollektiven Unbewussten.
Ich bin überzeugt, dass die wichtigsten Strukturen des Christentums nicht die äußeren institutionellen Formen sind, die jetzt in der Krise sind, sondern die tiefere Dimension des Glaubens, die Spiritualität. Der Glaube wird durch theologische Überzeugungen, Rituale und Institutionen zum Ausdruck gebracht. Tiefer liegt die Spiritualität – ein lebendiger Glaube, der das innere Leben der Menschen und ihre Beziehungen umfasst.
Vielleicht ist es die Krise, die Erschütterung und Auflösung dieser äußeren Strukturen, die uns helfen kann, die tiefen Strukturen des Christentums zu entdecken, und durch ihre Wiederbelebung kann es zu einer Erneuerung kommen – und nicht nur zu einer Erneuerung der Kirche. Spiritualität, wie ich sie verstehe, ist natürlich kein „Garten der privaten Frömmigkeit“, sondern die innere Dynamik der christlichen Existenz.

Glaube, etwas Absolutes oder auch nur allgemein Verbindliches, scheint es heute immer weniger zu geben. Wie kann man überhaupt neue Zugänge zu Religion und Transzendenz erschließen?

Halík: Für Jesus war nur die Liebe absolut. Bei der Transzendenz im Christentum geht es um Liebe: um Selbsttranszendenz, Überwindung des persönlichen und gruppenbezogenen (und kirchlichen) Egoismus, Selbstbezogenheit.
Gott ist das, was in der Liebe heilig ist. Sie ist die einzige absolute, auch allgemein verbindliche und sehr anspruchsvolle. Dies geschieht und zeigt sich in Beziehungen, nicht in dogmatischen Formulierungen.

Innerhalb der Kirche gibt es Spannungen zwischen konservativen Gläubigen und progressiven. Was ist für die Kirche in der gegenwärtigen Lage wichtiger: das Bewahren der Überlieferung oder Reformen?

Halík: Vielfalt und Spannungen hat es in der Kirche immer gegeben. Heute hat jene Form der Kirche, die versucht hat, sie zu verbergen und zu unterdrücken (Papst Franziskus nennt sie „Klerikalismus“), ihre Kraft und Vitalität verloren. Die lebendige Kirche ist „semper reformanda“, sie ist ein Weg, eine Bewegung. Das ist auch der Sinn der synodalen Reform: ein gemeinsamer Weg. Tradition ist eine ständige Neukontextualisierung. Die Frage, was die Identität des Christentums ausmacht, muss immer wieder neu gestellt werden: Es ist nicht irgendein unveränderlicher Schatz, sondern das Wehen des Geistes Gottes.
Die Reformbewegung darf auch nicht auf einige wenige dogmatische Forderungen reduziert werden: die Abschaffung des Pflichtzölibats, die Frauenordination usw. Diese Themen dürfen nicht tabuisiert, aber auch nicht überbewertet werden: Sie allein werden die Kirche nicht retten. Solange die spirituelle und exis­tentielle Dimension des Christentums nicht wiederbelebt wird, werden alle Versuche einer institutionellen Reform nutzlos sein.

Zwei Argumente gegen Reformen in der Kirche lauten: Die Kirche blüht in anderen Teilen der Welt, nur in der westlichen Welt verliert sie an Bedeutung. Die Kirche soll sich daher nicht an den (westlichen) Zeitgeist anpassen. Und: Reformen könnten zu einer Spaltung der Kirche führen. Finden Sie diese Argumente stichhaltig?

Halík: Die Demut und gesunde Selbstkritik unserer Kultur sollte nicht in Selbsthass oder Illusionen über andere Teile der Welt umschlagen. Wenn die Zahl der Taufen und der am Priestertum Interessierten irgendwo steigt, bedeutet das nicht unbedingt, dass das Christentum dort blüht. Nüchterne afrikanische Theologen warnen: Die Zahl der Taufen bedeutet nicht unbedingt die Zahl der gläubigen Christen. Auch wenn sich die Kirche in einigen latein­amerikanischen Ländern auf die Kraft der Tradition verlassen hat, wurde sie davon überrascht, wie schnell Katholiken ohne tiefere Glaubensausbildung zu fundamentalistischen Sekten übergelaufen sind.
Es liegt in der Natur der menschlichen Psychologie, dass es in der Kirche immer Menschen geben wird, die nach Reformen und Erweckung rufen, und solche, die Sicherheit fordern. Im Laufe der Geschichte haben einige Ordensgemeinschaften dieses Problem gut gelöst – nach anfänglichen Konflikten haben die reformierten und die nicht reformierten Zweige jahrhundertelang friedlich nebeneinander gelebt.

Das Konzil hat die Christen aufgerufen, die „Zeichen der Zeit“ zu erkennen und darauf zu reagieren. Was sind die Zeichen unserer Zeit?

Halík: Ich sehe zwei starke Tendenzen in unserer Welt. Zum einen besteht ein Interesse an Spiritualität, zum anderen der Wunsch, die religiöse Energie politisch zu nutzen.
Eine von der Ethik, insbesondere von der Ethik der Solidarität und der politischen Verantwortung, losgelöste Spiritualität wird zu einer billigen Solidarität. Und die Verwendung des Christentums als politische Ideologie (wie wir sie in Polen, Ungarn und bei den amerikanischen Republikanern sehen) führt zu einem gefährlichen „Katholizismus ohne Christentum“. Die Beziehung zwischen der spirituellen und der politischen Dimension des Glaubens muss neu überdacht werden.

Worin liegen die Chancen für das Christentum in der gegenwärtigen Zeit?

Halík: Im Kreuz und in der Auferstehung. Die Krisen der Kirche sind die „passio continua“, das andauernde Geheimnis des Kreuzes. Die persönlichen Bekehrungen und Reformen der Kirche sind „ressurectio continua“, die andauernde Auferstehung. Die Auferstehung ist eine überraschende Verwandlung.

Der Titel ihres neues Buches mit der Betonung des „Nachmittags“ im Sinne von C. G. Jung ließe ja erwarten, dass es sich dabei um eine Zeit des Erwachsenseins, der Reife handelt. Wo sehen Sie schon Zeichen für den Beginn einer neuen Ära?

Halík: Die großen Visionen von Papst Franziskus: die Kirche als „Feldlazarett“ und die Kirche als gemeinsamer Weg, müssen tiefer durchdacht und kreativ umgesetzt werden. Papst Franziskus hat zu Recht gesagt, dass der synodale Weg offen bleiben muss: Wir müssen wie Abraham sein, der sich mit dem Mut des Glaubens auf eine Reise begab, ohne zu wissen, wohin er ging.

Wie kann man die therapeutische Kraft des Glaubens wecken? Wie kann aus einer gelähmten, müden und innerlich gespaltenen Kirche ein Feldlazarett und ein Licht für die Völker werden?

Halík: Das Feldlazarett braucht den Hintergrund einer soliden Einrichtung, die in der Lage ist, diagnostische, präventive, therapeutische und rehabilitative Versorgung anzubieten. Die Theologie sollte eine spirituelle Zeitdiagnose stellen und ein „Immunsys­tem“ gegen zerstörerische Ideologien, Populismus, Nationalismus und Fundamentalismus schaffen. Seelsorge bedeutet, geistliche Begleitung, eine Kultur der Nähe, des Zu­hörens und des Verstehens zu entwickeln.
Es müssen Wege der Versöhnung und Vergebung gelehrt werden – zum Beispiel in Gesellschaften, die Diktaturen und autoritäre Regime erlebt haben. Wir müssen Orte der Stille und die Kunst der geistlichen Unterscheidung anbieten.

Sie schreiben in ihrem Buch, dass Gott auch in der säkularen Kultur gegenwärtig ist …

Halík: Es ist notwendig, „Gott in allen Dingen zu entdecken“, in allen Kulturen, in allen Gesellschaften. Die Geschichten der Evangelien über die Begegnung mit dem Auferstandenen, der in veränderter, oft anonymer Gestalt kommt, können uns inspirieren – wir werden ihn entdecken wie der Apostel Thomas, wenn wir unsere Augen nicht vor den Wunden in unserer Welt verschließen, oder wie die Pilger von Emmaus, wenn wir den Fremden auf dem Weg zuhören. Und vergessen wir nicht den Hymnus „Ubi caritas, ibi Deus est“, wo Liebe ist, da ist Gott.

Welche Aufgabe hat das Christentum in der heutigen globalisierten, weltweit vernetzten Welt?

Halík: Gott ist in unserer Welt durch Taten des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung gegenwärtig. Glaube sollte nicht mit „religiöser Überzeugung“, Hoffnung nicht mit Optimismus und Liebe nicht mit Emotionen verwechselt werden. Es ist eine Reise vom Leben an der Oberfläche zum Leben aus der Tiefe, vom Egozentrismus und dem „äußeren Gott“ (religiöse Projektion) zu Gott als der inneren Quelle.
Interview: L. Schlager, P. Harant-Schagerl

Prof. Tomáš Halík

Der gebürtige Prager wurde 1978 heimlich zum Priester geweiht und war enger Mitarbeiter von Kardinal František Tomášek und Václav Havel. Er ist Professor für Soziologie an der Karlsuniversität und Pfarrer in Prag. 2010 erhielt der Theologe den Romano-Guardini-Preis. 2014 wurde er mit dem Templeton-Preis, der inoffiziell als „Nobelpreis für Religion“ gilt, ausgezeichnet. Tomáš Halík ist einer der bedeutendsten religiösen Autoren unserer Zeit.

Verwendete Fachbegriffe

Säkularisierung (säkular)
„Verweltlichung“, Loslösung aus der Bindung an die Religion bzw. der soziale Bedeutungsverlust der Religion

sozio-kulturell
die sozialen, kulturellen und polititschen Interessen einer Gesellschaft/Gruppe betreffend

Synode (synodal)

Das griechische Wort Synode bedeutet „Versammlung, Treffen“. In der Tradition der Kirche drückt es aus, dass Menschen zu einer Versammlung einberufen werden, um im Hören auf den Heiligen Geist über gemeinsame Fragen zu beraten.

Buch-Tipp

„Der Nachmittag des Christentums“ heißt Tomáš Halíks neuestes Buch, in dem er die aktuelle Lage des Christentums und der Kirche analysiert und Möglichkeiten aufzeigt, zu einem reiferen Christentum zu gelangen und zu einer echten Weggemeinschaft mit allen Menschen.

Autor:

Kirche bunt Redaktion aus Niederösterreich | Kirche bunt

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