25. Sonntag im Jahreskreis | 24. September 2023
Meditation

Foto: Jakayla Toney/Pexels

Hektik und Fadesse

Wer im Radio klassische Musik hört, dem sind die Satzbezeichnungen der Stücke vertraut. Diese geben mit ihren Tempoangaben den Musikern wichtige Anhaltspunkte. Wer ein „Allegro“ (rasch, bewegt) mit einem „Largo“ (breit) verwechselt, verzerrt die Musik. Wer nicht unterscheidet zwischen „moderato“ (gemäßigt) und „prestissimo“ (sehr schnell), verfehlt die richtige Ausführung. Der Reiz eines Musikstückes liegt auch im Wechsel des Tempos zwischen den einzelnen Sätzen. Die Tempobezeichnung charaktierisiert den Abschnitt des Musikstückes, für den sie gilt.

Gibt es so etwas wie eine „Tempobezeichnung“ für die Abschnitte meines Lebens? Gibt es so ein bestimmtes Zeitmaß für einzelne Tätigkeiten?
Wenn ich meinen Tag anschaue, dann kann ich dieses verschiedene Zeitmaß für einzelne Tätigkeiten feststellen. Es steht nicht wie bei den Sätzen des Musikstückes jeweils davorgeschrieben. Und doch ist es vorgeschrieben durch den Tagesablauf und die Art der Tätigkeit. Da gibt es manches, das ich „allegro“ angehen muss, wenn es gelingen soll. Anderes erfordert gar ein „Prestissimo“. Aber dazwischen muss es in meinem Tagesablauf auch das „Moderato“ und „Largo“ geben, etwas im langsameren Tempo.

Dabei kann ich die Erfahrung machen, dass gerade der Wechsel im Zeitmaß meinem Tag die gute Spannung gibt. Wollte ich alles „prestissimo“ erledigen, könnte mir bald die Luft ausgehen. Aber ein „Moderato“ für alle Tätigkeiten wäre auch nicht passend. Der Reiz eines Tages liegt auch im gelungenen Wechsel des Zeitmaßes zwischen den einzelnen Abschnitten. (…) Auch bei größeren Zeiträumen kommt es darauf an, dass „Allegro“ und „Largo“, „Prestissimo“, „Moderato“ und die anderen Tempobezeichnungen in einem guten Spannungsverhältnis zueinander stehen, ohne dass ein Zeitmaß überdehnt wird.

Tempo und Rhythmus gliedern meine Zeit. Aus dem ungefügten, grenzenlos erscheinenden Zeitpacken kann so ein gegliedertes Ganzes werden. Zwar habe ich ich auch so die Zeit nicht im Griff, denn ich kenne ja den mir zugeteilten Umfang nicht. Aber Tempo und Rhythmus erleichtern mir den Umgang mit der Zeit, so dass ich Hektik und Langeweile vermeiden kann.
Dazu gehört dann auch der Wechsel zwischen Tun und Nichtstun. Auch diesen Rhythmus braucht meine Zeit wie die Gezeiten Flut und Ebbe, wie Einatmen und Ausatmen.

Werner Thissen, in: Kostbar ist der Augenblick, Butzon & Bercker, 2004

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.

Powered by PEIQ