Weißer Sonntag | 19.4.2020
Meditation

Foto: pixabay

Wie Symphonie und Tanz.
Man hat mich und 50 andere Menschen gebeten, für eine Buchveröffentlichung einen Brief an Gott zu schreiben.
Nein! Einen Brief an Gott werde ich nicht schreiben. Wohin solle ich ihn schicken? Er ist mir doch näher, als ich mir selber bin. „Gott schmeckt sich selbst. In dem Schmecken, in dem Gott sich schmeckt, darin schmeckt er alle Kreaturen. Mit dem Schmecken, mit dem Gott sich schmeckt, damit schmeckt er alle Kreaturen nicht als Kreaturen, sondern die Kreaturen als Gott. In dem Schmecken, in dem Gott sich schmeckt, in dem schmeckt er alle Dinge. – Gott schmeckt sich selbst in allen Dingen“ (Meister Eckhart, Predigt 26). Gott schmeckt die Kreaturen als Gott. Gott schmeckt mich als Gott.

Gott ist für mich wie eine Symphonie, die als dieses evolutionäre Geschehen erklingt. Er sitzt nicht draußen. Er hat diese Symphonie nicht komponiert und spielt sie sich vor. Er erklingt als diese Symphonie. Er ist die Musik. Und ich bin der Klang einer ganz individuellen Note; einmalig, einzigartig unverwechselbar. Gott klingt als diese Note, die ich bin.

Gott, das ist wie ein Tanz. Ich bin ein ganz individueller Tanzschritt dieses Tänzers Gott. Tänzer und Tanzschritt lassen sich nicht trennen. Gott tanzt sich selbst in mir als dieser Tanzschritt. In dieser Zeit, an diesem Ort, in dieser Gestalt möchte Gott in mir über diese Erde gehen. Das ist der einzige Grund, warum ich Mensch geworden bin. Meine Aufgabe ist es, ganz Mensch zu sein als Gestalt Gottes.
Eckhart sagte einmal: „Wenn ich nicht wäre, wäre Gott nicht“. Aus Gott kann man nichts herausnehmen. „Gott ist immer ganz, auch im kleinsten Ding“, schrieb Thomas von Aquin. – Ich schreibe Gott also keinen Brief. Ich feiere ihn als mein Leben. (…)

Der Ozean Gott. Ich bin eine Welle im Ozean Gott. Eine Welle kann meinen, sie sei getrennt vom Ozean, sie sei etwas ganz anderes. Doch wenn sie wirklich erkennt, was sie ist, erkennt sie, dass sie Ozean ist. Dies zu begreifen ist unsere wichtigste Lebensaufgabe. Du musst wiedergeboren werden, sagt Jesus zu Nikodemus. Du musst dein tiefstes Wesen erkennen. Vollende deine Geburt!

Willigis Jäger, Benediktiner der Abtei Münsterschwarzach, Priester und Zen-Meister,
starb am 20. März 2020 im Alter von 95 Jahren in Holzkirchen. – Quelle:
west-oestliche-weisheit.de/verstehen/willigis-jaeger

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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