23. Sonntag im Jahreskreis | 4. September 2022
Meditation

Vom Warten

Zu jeder Zeit und an jedem Ort gibt es wartende Menschen. Und im Leben des einzelnen Menschen gibt es kaum eine Zeit, in der er nicht auf irgend etwas wartete. Vom Briefträger, der eine ersehnte Nachricht bringen soll, bis zur Erfüllung lebensentscheidender Wünsche ist das irdische Dasein ein einziges großes Warten. Die ganze Stufenleiter menschlicher Empfindungen ist eingepresst in dieses eine, kleine Wort: warten.
Warten kann Ungeduld sein und schlechte Laune; kann Freude sein und Hoffnung, Sehnsucht und Glück. Warten kann sein ein feierliches Harren im Vorhof des Tempels, bis dass der Vorhang in zwei Teile zerreiße und die göttliche Flamme auflodere von den Altären der Erfüllung.

Darum sollten wir das Warten nicht als einen lästigen Beitrag zu allen übrigen Un-vollkommenheiten unsres Lebens rechnen, sondern es als ein Mittel zur Erziehung der eignen Persönlichkeit erkennen lernen …
„Ich kann es nicht mehr erwarten. Ich kann mich gar nicht mehr so richtig freuen, es hat zu lange gedauert.“ Wie oft hört man das, und wie traurig ist das.
Erwarten – was heißt denn das? Erwarten heißt: mit Ruhe und Stärke heranwarten, heranziehen. In demselben Sinne wie ersehnen, erkennen, erschließen. Die kleine Silbe „er“ heißt Erkennen, Erschließen, Besitz ergreifen in Eins.

Und was heißt denn das: Es hat zu lange gedauert! Ja, vielleicht hat es deiner Ungeduld, deiner Berechnung, deinem Verstande, deiner Zeiteinteilung, deinen Plänen zu lange gedauert.
Aber bei dem allermeisten Warten kommt es nicht auf dich allein an, sondern noch auf andre Menschen und andre Dinge und andre Verhältnisse, für die es vielleicht gerade nötig und gut war, dass es so lange dauerte. Stelle nicht immer dich in den Mittelpunkt deines Wartens, nimm dich und deine Verhältnisse nicht so ungeheuer wichtig. Du bist nur ein kleiner Teil eines tausendfältigen Ganzen, und das, worauf du wartest, ist vielleicht nur wie eine Masche in einem großen, kunstvollen Gewebe, das ganz in Unordnung geraten würde, wenn der große Weber sie um deiner Ungeduld willen vorzeitig fallen lassen würde.

Die deutsche Schriftstellerin Margarethe von Sydow (1869–1945) in ihrem Text „Ein Büchlein vom
Warten“, erschienen 1921

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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