16. Sonntag im Jahreskreis | 17. Juli 2022
Meditation

Foto: Bruno/pixabay

Ochsen, Schaf’ und Bäum’

Die temperamentvollen Predigten des Mönchs Abraham a Santa Clara (1644–1709) fanden enormen Zulauf aus allen Bevölkerungsschichten.

Spinne und Seidenwurm
Eine Spinne hat einmal wahrgenommen, dass der Seidenwurm so emsig in der Arbeit ist und unaussetzlich Seiden zurichtet. »Mein«, sagt sie, »was bist du für ein seltsamer Gispel, indem du Tag und Nacht dich bemühst, Seiden zu machen, womit sich andre Leut bekleiden, und dir, armen Narren, nichts anders vorgesetzt wird zu einer Speis als ein geringes Maulbeerblatt? Tust dich also nur wegen andrer Leut fretten und abplagen! – Ich«, fuhr die Spinn fort, »bin in dem Fall weit gescheiter; denn obschon ich spinne, so kommt‘s meinem Balg zu Nutzen, da ich nichts mach als Garn oder Netze, worinnen ich die Mucken fang für meine Speis. Da wär ich wohl eine große Närrin, wenn ich mich wegen andern möcht plagen.«

»Du«, gab zur Antwort der Seidenwurm, »bist eine bekannte giftige Bestie und hast keine einzige Lieb zum Nächsten! Weißt du nit, dass die Ochsen für andre ackern, die Schaf für andre Woll tragen, die Bäum für andre Frucht bringen? Der ist ein schlechter Kerl, der für sich allein lebt und seinem Nebenmenschen nit auch dient!«
Koch und Essig
Ein Koch, als er einst eine Speis mit wenig Essig etwas wollte säuren, hat dergestalten das Gericht verderbt, dass kein Mensch es konnte genießen und die Brüh fast dem Holzapfelsaft gleichte. Er erzürnte sich demnach über den Essig, und neben andern ausgegossnen Schmähwörtern heißt er ihn einen sauren Schelmen.
Das nun hat der Essig sehr hart empfunden und hierüber noch säurer ausgschaut. Er also beklagt sich wider den angetanen Schimpf mit ernstlichen Beweisen und Gründen: dass er einen vornehmen und rechtschaffnen Vater gehabt habe und also solche Schmach ihm sehr hart falle.
Hierauf der ungeduldige Suppenschmied: »Wer ist denn dein Vatter gewest?« – »Der beste 69er Wein in Luttenberg, und hat ihn jeder lieb und wert gehalten.«
So, hör ich wohl, kommen von wackern Eltern auch schlimme Kinder? – Was denn! Obschon das gemeine Sprichwort will, dass der Apfel nit weit vom Baum falle, so ist doch zu merken, dass, wenn ein Baum auf einem Berg steht und der Sturm einen Apfel herunterreißt, solcher gar oft ziemlich fern vom Baum und manchesmal gar ins tiefste Tal herunterkugelt.

Abraham a Santa Clara

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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