16. Sonntag im Jahreskreis | 18. Juli 2021
Meditation

Foto: istock

Choreografie des Ganzen.

Mein ganzes Leben lang wollte ich vor allem wissen, wie alles mit allem zusammenhängt. Was mich brennend interessiert, ist das Gesamtbild – die Frage nach dem äußersten Horizont, die Frage, worum es letztlich geht. Ist der Versuch, ein Gesamtbild mit weniger als hundert Schlüsselwörtern zu erreichen, ein allzu verwegenes Unterfangen? Jedenfalls scheint es mir der Mühe wert. Aufs Versuchen allein kommt ja alles an. Das Gelingen steht nicht in unsrer Hand.

Der nächstliegende Einwand wird wohl dieser sein: Wie kannst du hoffen, die Orientierungskarte einer sich ständig ändernden Welt zu zeichnen? Karte ist aber ein zu statisches Bild für das, was wir darzustellen versuchen. Es geht wohl eher um ein Verständnis der Choreografie des Ganzen, dessen wichtigste Merkmale Bewegung und Veränderung sind. Wenn wir uns tief einfühlen, dann bemerken wir, dass zum Gesamtbild nicht nur verändernde Bewegung gehört, sondern auch ruhendes Bleiben. Beides muss unser Sinnbild der Wirklichkeit ausdrücken können, Bewegung und Ruhe.

Da bietet sich das Bild eines Reigens an, der ohne Anfang und Ende in sich ruht, während er sich doch unaufhörlich bewegt. Wir tanzen nicht, um irgendwo anzukommen. Tanzen bezweckt nichts. Es ist zweckfrei, aber sinnvoll. Und doch zielen wir beim Tanzen auf etwas ab: Wir wollen der Musik den bestmöglichen Ausdruck verleihen und perfekt im Schritt sein, jetzt und jetzt und jetzt. Beim Tanz dreht sich alles um die Gelegenheit, Augenblick für Augenblick im Schritt zu sein mit denen, die uns am nächsten stehen im Kreis, und durch sie mit allen Tänzern in eine Wechselwirkung zu treten. Das Ziel ist, völlig eins zu werden mit Rhythmus und Harmonie des Tanzes. Tanz aber ist hier Sinnbild für Wandel und den Gang des ganzen Universums.

Kreis und Ring sind unerschöpfliche Sinnbilder für das kosmische Ganze. Beim Reigentanz ist es bedeutsam, dass wir als bloße Zuschauer das Wichtigste nicht sehen können. Von außerhalb des Kreises gesehen, muss es uns immer so erscheinen, als ob die uns Fernsten in die entgegengesetzte Richtung jener gehen, die uns am nächsten sind. Erst wenn wir selber in den Kreis eintreten, links und rechts unsre Partner bei den Händen fassen und mittanzen, wird uns klar, dass alle sich in der gleichen Richtung bewegen.
David Steindl-Rast

Aus: Orientierung finden. Schlüsselworte für ein erfülltes Leben, Tyrolia.

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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