6. Sonntag im Jahreskreis | 14. Februar 2021
Meditation

Foto: pixabay/CC 0

Vom Vertrauen
Als Gott fertig war mit der Welt, schaute er sich genau um, ob er auch nichts vergessen hatte. „Hier müsste es sich leben lassen“, fand er, knipste das Licht an und ließ den Dingen ihren Lauf.
Wie das bei neuen Dingen so ist, gab es anfangs einige Reklamationen. Zu wundern begann sich Gott erst, als nach einigen tausend Jahren die Anzahl der Beschwerden immer noch nicht abnahm. Das war sonderbar. „Man sollte doch meinen, dass die Menschen mittlerweile mit der Welt vertraut wären“, murmelte Gott. Als es klingelte, nahm er den Hörer ab und meldet sich mit einem freundlichen „Ja?“ „Hallo, ist da Gott? Gut, hören Sie, ich weiß nicht, was ich tun soll. Hanns-Martin hat um meine Hand angehalten.“ „Schön!“ „Ja, also, Hanns-Martin ist mein Freund, müssen Sie wissen, seit sieben Monaten schon, er arbeitet bei der Bank und …“ „Ich weiß, wer Hanns-Martin ist“, unterbrach sie Gott. „Ach? Na so was. Jedenfalls: Ich weiß nicht, ob ich Ja sagen soll.“ Gott wusste nichts Negatives über Hanns-Martin, alles in allem hielt er sich sehr redlich. „Warum denn nicht“, fragte er also. „Weil man nie weiß. Was, wenn er mich in fünf Jahren betrügt und mit den Kindern sitzen lässt? Vielleicht hinterlässt er sogar Schulden. Oder ich entdecke, dass er bereits eine Familie hat, inklusive Schäferhund. Womöglich hat er außerdem eine bislang unentdeckte Erbkrankheit, und die Kinder müssen mit seinem frühen Tod leben, weil die Behandlungskosten so hoch sind, dass ich sie niemals aufbringen würde!“ Die Stimme der Frau hatte einen immer schrilleren Klang bekommen. „Das alles scheint mir unwahrscheinlich, aber ich kann Ihnen leider auch nicht das Gegenteil garantieren.“ „Aber das sollten Sie können!“ „Tut mir leid“, antwortete Gott, und die Frau legte auf.
Es kamen noch 634 weitere Anrufe an diesem Vormittag. Die meisten Anrufer wollten Garantien irgendwelcher Art: ein langes Leben, gesunde Kinder, abbezahlbare Raten, einen Lottogewinn verbunden mit dem Versprechen, ein Achtel zu spenden.
Schließlich erhob sich Gott ärgerlich. So ging das nicht weiter! Hatte er tatsächlich etwas übersehen? Nachdenklich verschwand er in den Tiefen des Himmels. Als er zurückkam, hielt er etwas in den Händen, das er Vertrauen nannte. Es war klein und unscheinbar, jedoch keineswegs leicht. „Das können sie sich abholen“, murmelte er, stellte eine Kiste auf die Erde und legte sein Vertrauen hinein. „Zu verschenken“, schrieb er daneben und verschwand in den Himmeln, denn er fühlte sich sehr gut vertreten.
Susanne Niemeyer in „Wie lang ist ewig?,
Geschichten über das Leben und Davongehen“.
Das Buch enthält tröstende Geschichten zum Vorlesen in der Familie und zum Selberlesen. Kreuz Verlag 2015.

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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