Trau dich, es ist dein Leben | Teil 02
Ichwärts

Geh dein Tempo am Berg. | Foto: Shutterstock/IZF

Bis zum Gipfel 1300 Höhenmeter. Ich fühle mich fit und breche mit Freunden fröhlich auf. Sie schlagen ein schnelles Tempo an. Ich will mithalten und beiße die Zähne zusammen. Der Aufstieg stresst mich, und als wir auf dem Gipfel ankommen, stiere ich vor Erschöpfung leer vor mich hin.

Wie anders, als ich einige Tage später dieselbe Tour mache. Dieses Mal gehe ich mein Tempo – und genieße den Aufstieg und später dann den gemeinsamen Gipfelblick. Verrückt, was zehn Minuten ausmachen!“

So lautet eine Tagebucheintrag von mir. Ein Bild des Berggipfels hängt in meinem Zimmer. Darunter habe ich geschrieben: „Geh dein Tempo am Berg! Dich zu vergleichen raubt Freude, Kreativität und Verbundenheit.“

Der ständige Vergleich mit anderen entfernt uns von uns selbst. Dann rennen wir los, schneller, als es gut für uns ist, und kriechen nachher auf allen Vieren. Vor allem aber lassen wir uns in unserem Lebensgefühl von außen steuern. Natürlich, Vergleiche und Rankings haben ihre Berechtigung. Das Verführerische liegt darin, dass man sich vergleicht, um sich der eigenen Überlegenheit zu vergewissern. Doch egal, wie der Vergleich auch ausgeht, man gerät unversehens in eine emotionale Achterbahn. Denn ob wir uns zu klein geraten fühlen und uns selbst abwerten oder ob bei uns scheinbar alles „super“ läuft und wir auf den anderen herabschauen können: Hier gibt es nur Gewinnerinnen und Gewinner oder Verliererinnen und Verlierer. Und beides macht einsam! Beides raubt auf lange Sicht gesehen Nähe und Verbundenheit und macht das eigene Selbstwerterleben äußerst zerbrechlich. „Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit.“ (Søren Kierkegaard)

Beim Bergwandern habe ich gelernt: Um aus dem Sich-Vergleichen herauszukommen, hilft nur, ganz bei sich zu bleiben. In dem Maß, in dem jemand in sich ruht, ebbt das Sich-Vergleichen ab. Konkret kann das heißen, vom Kopf, der vergleicht, zum Herzen zu gelangen, das fühlt. Oder die Aufmerksamkeit auf den eigenen Körper zu lenken und zu spüren, wer man ist. Es mag sich vielleicht komisch anhören, doch es funktioniert: Wer in Berührung mit sich selbst ist, muss sich das Vergleichen meist gar nicht verbieten. Es kommt ihm oder ihr einfach nicht in den Sinn. Wer sich spürt, erfährt: „Ich bin ich.“ Und dies ist eine Erfahrung, die von allein Selbstwert vermittelt.

Jeder Mensch will zufrieden bejahen können, was er aus sich und seinem Leben macht. Und doch, wer kennt sie nicht: die Angst, aus der Menge mutig herauszutreten und auf der Bühne des Lebens zu erscheinen? Denn dadurch lassen sich schnell Sympathiepunkte verspielen …

Kein Wunder, dass wir Menschen oft ein meisterhaftes Gespür für unser Umfeld entwickeln. Wir wissen genau, was wir tun und lassen müssen, was wir anziehen, worüber wir sprechen und was wir besser nicht erwähnen sollten, um in der jeweiligen Situation akzeptiert zu werden. Doch das Streben, sich möglichst reibungslos anzupassen, um dazuzugehören – zum Arbeitsteam, zur Familie, zur Nachbarschaft –, entfernt einen schleichend von sich selbst. Natürlich: Wir müssen uns aufeinander einstellen und Wünsche und Pflichten miteinander abstimmen! Doch wer sich zu sehr anpasst, um dazuzugehören, entfremdet sich von sich selbst. Und von anderen.

Beim Bergwandern habe ich gelernt: Um aus dem Sich-Vergleichen herauszukommen, hilft nur, ganz bei sich zu bleiben.

Sehnsucht nach Einklang mit sich selbst und Verbundenheit 

An diesem Punkt herrscht ein weitverbreitetes Missverständnis: Viele bringen die Begriffe „dazugehören“ und „sich anpassen“ in einen engen Zusammenhang. Nach dem Motto „Wenn ich mich anpasse, gehöre ich dazu.“ Doch das ist ein Trugschluss! Denn wer sich durch allzu große Anpassung verbiegt, verhindert gerade das, was er ersehnt: sich aufrichtig mit anderen verbunden zu fühlen.

Wahre Zugehörigkeit entsteht in dem Maß, in dem wir zu uns stehen und uns mutig ins Spiel bringen. Und Nähe entwickelt sich in dem Maß, in dem wir uns einander in aller Offenheit zeigen.

Auf den Punkt gebracht: Wenn ich Zugehörigkeit mit Anpassung verwechsle, dann werde ich permanent Witterung aufnehmen für das, was angesagt ist – für Moden und Trends, für die Meinungen und Erwartungen anderer. Und in der Folge werde ich alles Erforderliche tun, um mich einzufügen. Um zu der Person zu werden, die ich angeblich sein muss, um akzeptiert zu werden. Doch es führt in die Irre, zu meinen, dass sich auf diese Weise das Bedürfnis stillen ließe, Teil von etwas Größerem zu sein. Denn Zugehörigkeit entsteht allein dort, wo wir uns möglichst authentisch zeigen. Und wo wir als die Person umarmt werden, die wir tatsächlich sind. Zugehörigkeit erfordert also, dass wir uns mutig zeigen und uns einander zumuten.

Es zeigt sich: Die Sehnsucht nach einem Leben im Einklang mit sich selbst und die nach Verbundenheit mit anderen gehören zusammen. Aus christlicher Perspektive kommt in dieser Dynamik die göttliche „Dynamis“ zum Tragen, der Heilige Geist. Wir dürfen darauf vertrauen, dass jeder Mensch vom göttlichen Geist beseelt ist. Gott sei Dank!

Melanie Wolfers

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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