Mutworte - Anna Schreiber
Selbstsüchtig oder selbstlos?

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„Bin ich egoistisch, wenn ich darauf achte, was ich möchte oder brauche? Bin ich selbstsüchtig, wenn es mir um mich geht?“
Wenn wir Worte wie „egoistisch“ oder „selbstsüchtig“ hören, dann erschließt sich sofort: Sie haben eine negative Bedeutung. So möchten wir auf gar keinen Fall sein! Bei Begriffen wie selbstlos oder uneigennützig hingegen spüren wir sofort, dass sie im allgemeinen Sprachverständnis eine positive Bedeutung haben.
In genau diesem Zwiespalt befinden wir uns heute: Das Zeitalter der sogenannten „schwarzen Pädagogik“, in dem es vor allem um Gehorsam und Drill ging, gehört zum Glück den beklagenswerten Phänomenen des letzten Jahrhunderts an. Wir beginnen heute zu verstehen, wie wichtig es ist, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen und zu äußern. Wir begreifen langsam, dass wir unsere eigenen Interessen vertreten dürfen. Wer soll es denn sonst tun, wenn nicht wir? Und doch fühlt es sich auf einer tieferen Ebene wie „falsch“ an, es fühlt sich fast rücksichtslos an.
Unsere – gesellschaftlich betrachtet junge – Erkenntnis steht im scheinbaren Widerspruch zum allgemeinen Sprachgebrauch, der den gesellschaftlich älteren Zeitgeist zum Ausdruck bringt. Es ist jedoch ein nur scheinbarer Widerspruch. Bei genauerer Betrachtung nähern wir uns nämlich, wenn wir uns selbst wichtig nehmen, dem zweiten Teil des Jesuswortes an: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Dieser Teil ist meiner Erfahrung nach der schwerere.

Dipl.-Psych. Anna Schreiber
ist Psychotherapeutin in Karlsruhe

Autor:

Ingrid Hohl aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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