Positionen - Elisabeth Wimmer
Kann Mathe sprechen?

Am letzten Tag des Jahres – als mir besonders Rückblick und neue Vorsätze durch den Sinn gehen – schaut der Mathematik-Freund mir gegenüber vom Kaffeehäferl auf und sagt: „Schon großartig, dass sich so etwas wie die Sprache der Mathematik entwickelt hat.“ Aha …? „Eine Formelsprache, mit der sich Realität eindeutig beschreiben lässt, Formen, Prozesse, Dynamik, Wahrscheinlichkeiten …“ – Naja, ich fühle mich eher der Buchstabensprache nahe, gerade wegen ihrer Mehrdeutigkeiten und Leerstellen. Weil diese, so scheint mir, der Wirklichkeit eher gerecht werden, vor allem wenn’s um existenzielle oder religiöse Fragen geht.
Doch sogleich verbindet sich in meinem Kopf die Frage der Mathematik-Sprache mit meinem Jahresrückblick. Halfen mir nicht tatsächlich die Zahlenzusammenhänge der Corona-Pandemie, die Maßnahmen zu verstehen und zwischen den vielen Stimmen meine Position zu finden? Erklärte mir nicht die Mathematik die Sorge um Krankenhauskapazitäten oder die höhere Wahrscheinlichkeit von Unerkannt-Infiziertsein im Vergleich zu Falsch-positiv-getestet-Werden? Zeigte nicht sie mir, warum die Maske der Kollegin helfen kann, dem Bruder des Chefs oder meiner Schwiegermutter die Gesundheit zu erhalten?
Und so komme ich doch bei existenziellen und geistlichen Fragen an – ganz real. Aus Respekt und konkreter Nächstenliebe schützen wir einander. Es ist gar nicht nötig, die unterschiedlichen Sprachen, die unsere Realität beschreiben, gegeneinander aufzurechnen: Sie fügen sich zusammen und lassen uns verschiedene Ebenen der Wirklichkeit verstehen.

Elisabeth Wimmer

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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