Grazer Erklärung zum assistierten Suizid
Lebenshilfe statt Sterbehilfe

Foto: Fischer
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Die Bürgermeister der Menschenrechtsstadt Graz, Siegfried Nagl und sein Vorgänger Alfred Stingl, haben kürzlich die „Grazer Erklärung zum assistierten Suizid“ präsentiert. Darin wird auf eine „möglichst restriktive Neuregelung“ der Sterbehilfe gedrängt. Auch ein Rechtsanspruch auf Palliativ- und Hospizbetreuung wird gefordert. – Lesen Sie die Erklärung „Lebenshilfe statt Sterbehilfe“ im Wortlaut.

Der Hintergrund – Assistierter Suizid
Am 11. 12. 2020 hat der Österreichische Verfassungsgerichtshof (VfGH) verkündet, dass der § 78, 2. Tatbestand Strafgesetzbuch (Hilfeleistung beim Suizid) verfassungswidrig und daher aufzuheben ist. Das bisherige Verbot der „Beihilfe“ zum Suizid wurde ersatzlos aufgehoben. Demgegenüber bleiben die „Verleitung“ zum Suizid sowie „Tötung auf Verlangen“ weiterhin strafbar. Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 31. 12. 2021 in Kraft. Der Gesetzgeber hat bis Ende 2021 Zeit, die Suizidbeihilfe verfassungskonform zu regeln. In Sinne der notwendigen öffentliche Debatte bringen wir Auszüge aus der kürzlich präsentierten „Grazer Erklärung zum assistierten Suizid“.

Aus der „Grazer Erklärung“
[Mit der Aufhebung des Verbots von assistiertem Suizid] werden hier „Türen geöffnet“, „die mit der Würde des Menschen nicht vereinbar sind“. Es ist davon auszugehen, dass kranke und alte Menschen künftig einem massiven Druck ausgesetzt sein könnten, Beihilfe zum Suizid zu begehren. So zeigt
eine niederländische Studie, dass Menschen, die den Wunsch zu sterben geäußert hatten, folgende Gründe dafür angegeben haben: 56 Prozent „Einsamkeit“, 42 Prozent die Sorge, „zur Last zu fallen“ und 36 Prozent finanzielle Belastungen. […]

Die Menschenrechtsstadt Graz hat Expertinnen und Experten, die diesem VFGH-Urteil ebenfalls kritisch gegenüberstehen, zu einem „Grazer Dialog“ eingeladen. Diese Arbeitsgruppe konnte sich auf folgende Punkte verständigen:

  • Wo mehr Freiheit eingefordert wird, braucht es auch mehr Verantwortung!
  • Assistierter Suizid wird von den Befürwortern sehr positiv kommuniziert. Die Aufgabe der Gesellschaft ist es aber, Suizide zu verhindern. „Autonomie“ wird in diesem Diskurs zunehmend mit „Gleichgültigkeit“ verwechselt.
  • Die Haltung zum assistierten Suizid innerhalb unserer Gesellschaft, wie sie durch Umfragen erhoben wird, hängt weitgehend vom Kenntnisstand der Befragten sowie von der Art der Fragestellung ab.
    * Die von den ProponentInnen für den assistierten Suizid beauftragte „Integral-Umfrage“, die von 80 Prozent Zustimmung innerhalb der Bevölkerung zum Urteil des VfGH ausgeht, ist tendenziell und wenig seriös. Drei der vier zur Wahl stehenden Antwortmöglichkeiten sind nicht nur pro assistierten Suizid, sondern durch das Wort „gut“ in der Antwort auch höchst manipulativ.
    * Ein ganz anderes Bild als die „Integral-Umfrage“ zeigt die sogenannte „Focus“-Studie, die mit weitaus differenzierteren Fragestellungen zu einem völlig entgegengesetzten Ergebnis kommt: Während jeweils 58 Prozent „indirekte“ und „passive“ Sterbehilfe befürworten, sind nur 35 Prozent für die „Suizidbeihilfe“ und 31 Prozent für die „aktive“ Sterbehilfe. 73 Prozent erwarten hingegen, dass die Aufhebung des Verbots des assistierten Suizids zu Missbrauch führen werde. 
  • Die internationalen Vergleichszahlen zeigen unmissverständlich, dass mit der rechtsfolgenfreien Zulassung des assistierten Suizids die Zahl der davon Betroffenen in erschreckender Weise steigt:
    * in den Niederlanden zwischen 2002 und 2019 von 1.882 auf 6.361, in manchen Landesteilen gehen bereits 15 Prozent der Todesfälle auf Tötung auf Verlangen bzw. assistierten Suizid zurück,
    * in Belgien zwischen 2002 und 2019 von 24 auf 2.655, 
    * in der Schweiz zwischen 2003 und 2017 von 187 auf 1009. 
  • Hier von Freiheit, freiem Willen oder Autonomie zu sprechen, ist nicht nur nicht nachvollziehbar, sondern ignoriert wissentlich, dass wahrscheinlich insbesondere auch finanzielle Interessen von Sterbehilfeinstitutionen dahinterstehen.
  • Aus der Sicht von Kranken- und Gesundheitseinrichtungen, insbesondere den schon bestehenden Palliativ- und Hospizstationen sind folgende Aspekte vom Gesetzgeber zu berücksichtigen: 
    * Wer beim assistierten Suizid von einem „Act of Dignity“ oder „Erlösung“ spricht, verwendet Sprachspiele, die der Realität in solchen Lebenslagen in keiner Weise gerecht werden. 
    * Häuser, die bisher als Orte der „Lebenshilfe“ verstanden wurden, werden als Einrichtungen einer wie immer gearteten „Sterbehilfe“ das Vertrauen der Bevölkerung verlieren.
    * Der assistierte Suizid darf daher für keine dieser Einrichtungen wie auch für ÄrztInnen oder Apotheken insgesamt zur Verpflichtung werden. ÄrztInnen, die sich dazu bereit erklären, müssen entsprechende Zusatzqualifikationen aufweisen. 
    * Dem assistierten Suizid muss eine unabhängige Beratung im Sinne einer fachlichen Expertise vorangehen. 
    * Die Entscheidung muss vom Betroffenen noch selbst getroffen werden. 
    * Die Methoden wie auch die Begründungen müssen restriktiv eingeschränkt werden können. 
    * Assistierte Suizide sind durch Belegstatistiken zu dokumentieren. 
    * Aus psychiatrischer Sicht ist das Vorhandensein eines „autonomen freien Willens“ nicht valide verifizierbar. Insbesondere bei multimoribunden Krankheitsbildern ist die Annahme eines solchen „freien Willens“ nicht evidenzbasiert. Zudem gehört auch der Sterbewunsch selbst zu verschiedenen Krankheitsbildern. 
    * Aufgrund der Entwicklungen der Palliativ- und Hospizbetreuung gelingt es nicht nur in den meisten Fällen, Schmerzen zu behandeln, sondern den Menschen auch die Angst vor Schmerzen zu nehmen. Erhebungen zeigen dementsprechend, dass Schmerzen immer seltener als Grund für den konkreten Wunsch nach assistiertem Suizid angeführt werden. 
    * Völlig ausgeblendet in der aktuellen Diskussion ist die Frage geblieben, was diese Öffnung für die „Assistierenden“ bedeutet. Wie leben sie mit ihrem Gewissen angesichts einer solchen Erfahrung weiter? 
  • Die Arbeitsgruppe identifiziert sich uneingeschränkt mit der Aussage der Österreichischen Bischofskonferenz: „Zum Leben gehört das Sterben, nicht das Töten!“
    Eine Gesellschaft, die dem Wunsch nach assistiertem Suizid erfolgreich entgegenwirken will, braucht daher eine bestmögliche Versorgung im Palliativ- und Hospizbereich und in der psychosozialen Suizidprävention. Diesbezüglich sollten sofort österreichweit Erhebungen hinsichtlich entsprechender Investitionen erfolgen. 

Zusammenfassung der „Grazer Erklärung“
In der „Grazer Erklärung zum assistierten Suizid“ appellieren Alfred Stingl und Siegfried Nagl im Namen der Menschenrechtsstadt Graz an den Gesetzgeber und fordern:

  1. Eine alternativlose Streichung des § 78, 2. Tatbestand – ein „Auslaufenlassen“ – ist unannehmbar!
  2. Der Gesetzgeber wird ersucht, eine möglichst restriktive Neuregelung für die Bedingungen des assistierten Suizids – im Sinne der „Grazer Erklärung“ – zu verabschieden, die zugleich aber vor dem VfGH bestehen kann. Dabei ist auch zu gewährleisten, dass auf diese Weise eine klare Trennlinie zum § 77 „Tötung auf Verlangen“ gezogen wird.
  3. Es ist ein Rechtsanspruch für alle in Österreich lebende Menschen auf Palliativ- und Hospizbetreuung sowie auf psychosoziale Suizidprävention sicherzustellen.
    Siehe: www.graz.at/cms/beitrag/10375655/8106610/Lebenshilfe_statt_Sterbehilfe.html
Foto: Fischer
„Es muss Ziel der Gesellschaft sein, Bedingungen zu schaffen, dass Suizidwünsche erst gar nicht entstehen“, formulierte der Ethiker Johann Platzer in der SONNTAGSBLATT-Serie „Das ganze Leben leben (11. April 2021). – In der von den Bürgermeistern Siegfried Nagl und Alfred Stingl präsentierten „Grazer Erklärung“ werden dazu konkrete Impulse und Forderungen vorgelegt.
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Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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