5. Sonntag der Osterzeit | 28. April 2024
Meditation

Blick in die Berge Armeniens | Foto: Kölbl

Gott, der ZEUGE

In der schweren Krankheit, die bald zu ihrem Tode führen sollte, wendete sich meine Mutter einmal zu mir und sagte fast feierlich: „Du siehst, wie viel ich leide.“ Erst später, ich musste zuvor durch eigenes Leid dazu heranreifen, wurde mir klar, was ich da an meiner Mutter erlebt hatte: Intensivstes Leiden stürzt uns noch zusätzlich in ein Gefühl völligen Verlassenseins. Ein unüberbrückbarer Abgrund scheint uns zu trennen vom normalen Leben in der Welt der Gesunden.

Da wünschen wir uns zwar nicht, dass jemand anderer ebenso leiden müsste, aber wir ersehnen uns jemanden, der wenigstens darum weiß, wie schwer wir leiden, einen ZEUGEN also. Nicht um Befunde geht es uns, sondern um Einfühlung, nicht um ein Zeugnis, das feststellt, sondern um einen ZEUGEN, der Anteil nimmt.

Erinnern wir uns: Wer von „Gott“ spricht, weist mit diesem Wort auf die Einsicht hin, dass die letzte Wirklichkeit nicht unpersönlich ist, sondern dass wir zu ihr in persönlicher Beziehung stehen und diese Beziehung pflegen können. Wer Gott den ZEUGEN nennt, legt in diese Benennung sein Vertrauen hinein, dass aufgrund unserer persönlichen Beziehung zum Urgrund aller Wirklichkeit alles uns Wichtige, selbst das Gefühl äußerster Verlassenheit, im ewigen Jetzt geachtet, gewürdigt und aufgehoben wird.

Sehnst du dich auch nach dem Augenmerk von jemandem, dem es etwas bedeutet, wie es dir geht? Erwartet jemand vielleicht gerade heute von dir selber diesen Zeugendienst? Der ZEUGE blickt uns oft durch menschliche Augen an und wird uns oft erst durch Mitmenschen so recht gegenwärtig.

David Steindl-Rast
Aus: 99 Namen Gottes. Tyrolia, 2019.

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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