24. Sonntag im Jahreskreis | 17. September 2023
Meditation

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Ein Baum im Wandel

Es war einmal ein Baum, der über sich selbst nachdachte: Ich habe hier schon seit vielen Jahren Platz genommen. Angst hatte ich als junges Wesen. Hauchdünn war mein Stamm, nicht höher als ein Grashalm. Zum Glück wurde ich nicht abgemäht. Doch wer bin ich? Neulich hörte ich jemand sagen, dass die Kirsche stehen bleiben kann. Also gut, ich bin ein Kirschbaum. In jedem Frühling erhalte ich einen besonderen Kopfschmuck mit tausenden Blütenblättern. Ihren Duft atme ich ein.

Inzwischen bin ich groß, dass mein Blätterwerk Schatten wirft. Ich kann nun Gäste empfangen. Vögel besuchen mich, hunderte, die singen, und hunderte, die meine tiefroten Früchte genießen. Und Menschen kommen mit Körben, um meine Früchte zu ernten. Und im Sommer bekomme ich hohen Besuch. Eine Nachtigall, die Königin unter den Vogelstimmen, singt Lieder, die mich am Abend mit Glück erfüllen.
Ich sorge auch dafür, dass die Erde unter mir zusammengehalten wird. Nach einem starken Sommerregen geben meine Wurzeln Widerstand, damit die Erdkrumen nicht mit den Wasserströmen davonschwimmen oder nach einer Schneeschmelze die Erde nicht weggeschwemmt wird.

In den Herbstzeiten geschieht etwas in mir und an mir. Die Blätter werden bunt. Rot und goldgelb. Wie durch ein Wunder beginnen die Blätter sich von mir zu lösen, und sie bewegen sich in großer Leichtigkeit tanzend hin zur Erde. Um mich herum bildet sich auf dem Boden ein festlicher Teppich. Das wird schließlich neu zu guter Erde.

Vor Jahren schon entdeckte ich einen weiteren Baum, der aber ganz anders aussieht als ich. Eine Tanne. Einmal im Jahr, wenn es kalt ist, erhält die Tanne ein glanzvolles Kleid. Sie wird mit Lichtern und leuchtenden Kugeln von oben bis unten geschmückt. Ich darf mich in den winterlichen Monaten ausruhen und alle Kräfte für die Zukunft sammeln.

Vielleicht werde ich eines Tages auch ganz anders aussehen und meine Kraft weitergeben. Vielleicht als ein Tisch, an dem die Menschen sich versammeln, um Frieden zu finden, um zu feiern und sich zu freuen. Oder ich werde als eine Bank unter einer neuen Kirsche stehen, wo sich Liebende treffen und auch Kummer und Sorgen Platz haben. Vielleicht verwandelt sich ein Stück von mir in eine Flöte oder Geige. Dann werden meine Melodien weitergetragen bis zu den Sternen.

aus: Hans-Jürgen Hufeisen, Meine Seele ist still in mir wie ein See, Verlag am Eschbach

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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