Reformationsjubiläum. Serie zum Lutherjahr 2017 | Teil 04
Lesen lernen im Geheimen

Bei der Sonntagsblatt_ÖkumeneReise konnten es die Steirer hautnah erleben: Die Lutherstadt Wittenberg feiert das große Reformationsjubiläum mit zahlreichen Ausstellungen und Veranstaltungen... | Foto: Finster
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Für das reformatorische Selbstverständnis ist Bildung zum mündigen Christsein unerlässlich. Um selbst Rechenschaft über den Glauben geben zu können, wurde die Bibel in zahlreiche europäische Sprachen übersetzt, wodurch oft erstmalig Schriftsprachen entstanden, was die Entwicklung von Dichtung und Literatur in vielen Ländern nachhaltig förderte. Ich erinnere an Martin Luther und Ulrich Zwingli mit der Zürcher Prophezey, deren Übersetzungen ins Deutsche wir Evangelische im heutigen Österreich bis heute verwenden.

Es war dann eher Melanchthon, der mit genialer Sprachbegabung die Übersetzung des Alten Testamentes prägte. Nur so war es möglich, dass Luther auf der Wartburg das Neue Testament in nur elf Wochen in die deutsche Sprache übersetzte. Und er fand dabei eine Sprache, die „dem Volk aufs Maul schaute“.

Gewiss, es gab andere Übersetzungen davor. Aber keine wurde so sehr angenommen und prägte die Sprache selbst. Im September 1522 erschien die erste Auflage mit 3000 Exemplaren. Sie war innerhalb von drei Monaten ausverkauft. Zurück in Wittenberg, arbeitete Luther zusammen mit Melanchthon und anderen an der Übersetzung des hebräischen Teils der Bibel. Es ist spannend, dass hier der Übersetzungsvorgang so bewusst eine Arbeit im Dialog, in Partnerschaft war. So entstand die „Wittenberger Reformatorenbibel“.

Mit der Bibelübersetzung in die jeweilige Landessprache wurde auch erreicht, dass als Folge der Lehre vom Priestertum aller Glaubenden die Gemeinde in die Lage versetzt wurde, die Predigt von der Kanzel zu beurteilen. Das Lehramt der Kirche liegt seit der Reformation in der Gemeinde! Daraus ergibt sich letztlich auch die basisdemokratische Verfassung der evangelischen Kirchen, die unter dem Fachbegriff presbyterial-synodale Kirchenverfassung bis heute gelebt wird.

Die Fähigkeit des Lesens hat sich in Österreich in der Zeit des sogenannten Geheim- oder Untergrundprotestantismus, also zwischen den Jahren 1600 und 1781, tiefgreifend ausgewirkt. Evangelische gab es in dieser Zeitperiode über rund sechs Generationen nur im bäuerlichen Milieu in abgelegenen Gegenden Österreichs, im Murtal, am Dachstein, im Salzkammergut und in den abgelegenen Bergtälern in Kärnten. 1784 berichtet von dort der erste Senior, der mit der Aufsicht über die eben erst gegründeten evangelischen Toleranzgemeinden aufgrund des Toleranzpatents von Kaiser Joseph II. vom 13. Oktober 1781 Folgendes: „In diesem Zustand fand ich meine erste und die daran grenzenden Gemeinden, die viel später ihre Lehrer bekamen. Der größte Teil meiner, mir zum Unterricht anvertrauten Glaubensbrüder hatte sehr eingeschränkte Glaubensbegriffe. Unter Hunderten konnten kaum 10, und unter denselben einer gut lesen, denn sie hatten Zeiten erlebt, in welchen man ihnen keinen Schulunterricht erlaubte. Wozu soll nun ein Bauer, sagen die katholischen Missionare, das Lesen lernen? Er wendet ja ohnedies seine Fähigkeiten nur zum Lesen ketzerischer Bücher an! Die armen Leute waren also gezwungen, ihren Kindern nur insgeheim das Lesen beizubringen.“

Erst nach 1781 konnten wieder evangelische Schulen errichtet werden.

Michael Bünker

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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