Aus meiner Sicht - CR Herbert Meßner
Anleitungen eines Platzanweisers

Als der Mystiker Abu Said im 11. Jahrhundert zu einer Predigt kam, gab es ein riesiges Gedränge in der Moschee. Der Platzanweiser war völlig verzweifelt und rief in die Menge: „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näherkommen.“ Danach ergriff der Mystiker das Wort und erklärte die Versammlung für beendet. Denn: „Alles, was ich sagen wollte und sämtliche Propheten bereits gesagt haben, hat der Platzanweiser jetzt schon gesagt.“

Im Tagebuch seines Großvaters hat der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani diese Erzählung gefunden und daraus den Titel für ein Buch gemacht. Der Regens des Grazer Priesterseminars, Thorsten Schreiber, zitierte diesen Satz bei der Abschiedsvorlesung der Religionswissenschaftlerin Ulrike Bechmann.

„Alle sollen von da, wo sie sind, einen Schritt näherkommen.“ Ist damit nicht eigentlich alles gesagt für die Einheit der Kirchen oder die Verständigung der Religionen? Ist nicht damit unserer gespaltenen Gesellschaft ein Weg gezeigt?

Die Einstellung „Jeder muss sich dorthin stellen, wo ich stehe“, sei dies links oder rechts, polarisiert. Mit dem Motto „Alle stellen sich dorthin, wo die meisten anderen stehen“ treten wir einander auf die Füße.

Bevor noch der Prediger seine Gedanken äußern konnte, hatte der Platzanweiser das Entscheidende gesagt: „Jeder soll von dort, wo er steht, einen Schritt näherkommen.“ Jeder, jede soll einen Standpunkt haben. Und die Bereitschaft, sich anderen anzunähern. Die Welt braucht gute Platzanweiser. Eine Aufgabe auch für unsere Kirche?

Herbert Meßner, Chefredakteur

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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