Welthaus - Ukraine
„Ein Wunsch: Vergesst uns nicht!“

Zerstörte Häuser prägen das Stadtbild in vielen Teilen der Ukraine – hier in Kiew. Seit 24. Februar dauern die Kampfhandlungen an verschiedenen Orten und in unterschiedlicher Intensität weiter an. | Foto: Caritas
2Bilder
  • Zerstörte Häuser prägen das Stadtbild in vielen Teilen der Ukraine – hier in Kiew. Seit 24. Februar dauern die Kampfhandlungen an verschiedenen Orten und in unterschiedlicher Intensität weiter an.
  • Foto: Caritas
  • hochgeladen von SONNTAGSBLATT Redaktion

Wie sie mitten im Krieg Hilfe für traumatisierte Menschen organisiert und welche Hoffnungen sie für die Zukunft hat, erzählt eine ukrainische Projektpartnerin von Welthaus im Interview.

Sie leben in einer kleinen Stadt im Norden der Ukraine. Was passierte nach dem russischen Einmarsch am 24. Februar, und wie ist die Situation heute?
Es passierte unerwartet. Natürlich spürten wir, dass etwas vor sich ging. Irgendwie lag der Krieg in der Luft. Aber wir konnten es uns nicht vorstellen. Am 24. Februar wurde ich um 4.30 Uhr durch einen Anruf meiner Kollegin geweckt. Sie sagte: Der Krieg hat begonnen. Ich öffnete das Fenster und hörte die Gefechte. Die Russen waren in der Nacht in die Stadt gekommen. Ich saß da und wusste nicht, was ich tun sollte. Dann fuhr ich ins Büro und nahm die Computer und wichtige Aufzeichnungen mit. Die Situation war beängstigend: Was sollten wir tun, wie alles organisieren, wo uns verstecken, was würde mit uns passieren? Man ist darauf nicht vorbereitet und will es nicht akzeptieren.

Da wir nahe am Militärflughafen wohnten, zogen wir zu unserer Sicherheit zu einer Kollegin. Innerhalb von drei Tagen setzten wir unsere Arbeit aus dem Homeoffice fort. Wir mussten etwas tun, um nicht verrückt zu werden. Finanzielle Mittel hatten wir noch, um die Menschen weiter zu unterstützen.

Unsere Stadt war 50 Tage lang von russischen Truppen eingekesselt. Am Beginn führten sie Gespräche über eine Kapitulation, aber die Stadt weigerte sich. Also schnitten sie uns von der Versorgung ab. Am nächsten Tag stürmten die Menschen die Geschäfte. Dann gab es nichts mehr zu kaufen: Keine Lebensmittel, keine Medikamente. Auch die Bankomaten funktionierten nicht. Viele hatten nicht einmal Nahrung für drei Tage. Wir wollten vor allem den sozial schwächsten Familien helfen.

Innerhalb von ein paar Tagen sammelten wir Nahrungsmittel in einem Lager, dann verteilten wir Essenspakete an rund 200 Familien. Es war sehr schmerzhaft für mich zu sehen, wie sie reagierten: mit Tränen in den Augen. Noch etwas hat mich sehr bewegt: Die Gesichter der Menschen wurden dunkel, innerhalb von 24 Stunden alterten sie sichtbar. Meine Kollegen, meine Nachbarn, jeder.

Und nach 50 Tagen zogen die Russen ab?
Ja. Sie wurden verlegt, um andere russische Truppen zu unterstützen. Als sie abzogen, verminten sie die Felder, Kindergärten, Schulen. Jetzt ist das ganze Gebiet vermint. Das ist sehr schwierig, etwa für die Bauern. Es gab bereits einige tragische Fälle mit explodierten Minen.
Unsere Stadt liegt in der Region Sumy nahe der russischen Grenze. Sie schossen weiterhin praktisch jeden Tag und jede Nacht. Das Geheul der Sirenen ist Teil des Alltags geworden. Sie beschießen auch kleine Dörfer, wo vor allem ältere Menschen leben. Ich verstehe nicht, was sie damit erreichen wollen. Frauen erzählten, als sie in den Gärten arbeiteten, flogen die Hubschrauber so tief über sie hinweg, dass sie die Gesichter der Piloten sehen konnten.

Wie geht es den Menschen heute dort?
Es ist ein Trauma für die ganze Bevölkerung. Die Psychologen in unseren Projekten arbeiten mehr oder weniger rund um die Uhr – online und offline. Viele haben Söhne oder Ehemänner, die im Krieg kämpfen. Einige haben Angehörige im Krieg verloren. Viele sind traumatisiert. Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt. Und dann ständig die Sirenen. In der ersten Zeit nach Kriegsausbruch haben wir kaum geschlafen. Wir fühlten uns aber auch nicht müde. Eine Zeit lang geht das. Man hat genügend Energie und denkt, man ist okay. Doch dann beginnen gesundheitliche und psychische Probleme. Ich hörte zum Beispiel „Phantom-Sirenen“. Das bedeutet, ich hörte sie die ganze Zeit, auch wenn sie gar nicht losgingen.

Wie hilft Ihre Organisation?
Gemeinsam mit Welthaus unterstützen wir hauptsächlich junge Leute: Durch unsere Jugendclubs, ein Tageszentrum für Kinder aus sozial schwachen Familien und durch Kurse und Nachhilfeangebote. Diese Arbeit geht auch jetzt weiter, aus Gründen der Sicherheit findet sie derzeit vor allem online statt.
Familien in Not unterstützen wir mit Essenspaketen, Medizin sowie psychologischer und juristischer Hilfe. Wir haben auch ein Projekt für Kinder, die an Krebs erkrankt sind. Gemeinsam mit deutschen Hilfsorganisationen haben wir ein altes Gebäude so hergerichtet, dass es für die Versorgung der Kinder sehr gute Voraussetzungen bietet. Ich hoffe, dass es nicht zerstört wird.

Waren die Schulen bis zu den Ferien ge­öffnet?
Nein, der Unterricht fand nur online statt. Die meisten Schulen haben keine Luftschutzräume. Was sollen die Kinder machen, wenn die Sirenen losgehen? Das ist zu gefährlich.

Welche Unterstützung wünschen Sie sich noch?
Zuerst einmal: Alles, was Welthaus tun kann, tut es. So gut und schnell wie irgendwie möglich. In der aktuellen Situation hat besonders die Hilfe für sozial schwache Familien und speziell für Kinder und beeinträchtigte Menschen höchste Priorität. Wichtig sind auch die Trainings für unsere Psychologen, damit sie der Bevölkerung helfen können, ihre Verluste und Traumata aufzuarbeiten. Einen Wunsch hätte ich: Vergesst uns nicht!

Die EU hat die Ukraine in den Kreis der Beitrittskandidaten aufgenommen. Was erwarten Sie sich davon?
Ich denke, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer seit langem beweisen, dass sie in einem demokratischen Staat ohne Korruption leben wollen, in dem die Menschenrechte respektiert werden. So viele Leben wurden dafür seit der orangen Revolution 2004 geopfert. Ich denke, wenn wir bereits in der EU wären, hätte dieser Krieg nicht passieren können. Der Kandidaten-Status ist ein guter Schritt. Ich hoffe, dass wir nicht zehn oder zwanzig Jahre nur Kandidat bleiben.

Welche Möglichkeiten sehen Sie, um den Krieg zu beenden?
Als der Krieg begann, hatte ich jeden Tag die Hoffnung, dass er bald vorbei sein würde. Doch es scheint so, als würde er lange dauern. Es muss Verhandlungen geben. Aber ich bin kein Politiker, ich weiß es nicht. Was ich bestimmt weiß: Putin hat nur vor einem starken Gegner Respekt. Wir sind nicht bereit, alle seine Forderungen zu erfüllen, wir wollen nicht unter seinem Regime leben, niemals.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Natürlich wünsche ich mir eine gute Entwicklung für mein Land. Die Ukrainerinnen und Ukrainer sind hart arbeitende Menschen. Ich wünsche mir Frieden für unser Volk, wir haben ihn uns verdient. Ich möchte in einem Land leben, in dem die Menschenrechte geachtet werden und wo es keine Gewalt gibt, egal von welcher Seite. Unser Land hat so viel Potenzial. Ich hoffe und bete, dass meine Träume wahr werden.

Aus Sicherheitsgründen werden Name und ­Wohnort der Interviewpartnerin nicht genannt.
Interview: Christian Köpf

Zerstörte Häuser prägen das Stadtbild in vielen Teilen der Ukraine – hier in Kiew. Seit 24. Februar dauern die Kampfhandlungen an verschiedenen Orten und in unterschiedlicher Intensität weiter an. | Foto: Caritas
Welthaus-Projektpartner versorgen die Menschen mit Essenspaketen und Medikamenten. Sie wollen helfen? Spendenkonto Welthaus: AT79 2081 5000 0191 3300, Kennwort: Ukraine. | Foto: Welthaus
Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.

Powered by PEIQ