Interview
Der wiedergeliebte Mensch

Eine Ziege, die verbindet: Erzbischof Simon übergibt eine Ziege an Frauen aus ehemals verfeindeten Ethnien und ermöglicht damit Neuanfang und Versöhnung. 
 | Foto: Jutta Becker
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  • Eine Ziege, die verbindet: Erzbischof Simon übergibt eine Ziege an Frauen aus ehemals verfeindeten Ethnien und ermöglicht damit Neuanfang und Versöhnung.
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Friedensapostel und Versöhnungsaktivist. In seiner Heimat Burundi war Erzbischof Simon Ntamwana immer wieder Mordanschlägen ausgesetzt. Bei einem Graz-Besuch erzählt er, warum er weiter aktiv ist für Versöhnung und was es dazu braucht.

Erzbischof Simon, in Ihrem Geburtsland Burundi fanden seit 1962 aufgrund von Bürgerkrieg und gewaltsamen Auseinandersetzungen mehr als 500.000 Menschen den Tod. Ein Großteil Ihrer Familienmitglieder starb, Sie selbst wurden Ziel von Mordanschlägen. 1990 sind Sie als Bischof von Bujumbura öffentlich für Versöhnung aufgetreten und haben sich gegen Gewalt ausgesprochen. Das alles war oft lebensbedrohlich für Sie und unglaublich mutig…

… nein, das war es nicht. Aber es war notwendig. Vorher war ich wie die anderen Priester: Ich habe von der Versöhnung ge-predigt und von Umkehr, aber nun stand die Versöhnung für mich im Vordergrund. Die regierenden Herren sind nie mit uns, mit den Bischöfen. Sie wollen niemanden, der ihr Tun kritisiert und sie wollten nicht, dass jemand den Mut aufbrachte, den Menschen zu sagen: „Ihr dürft den Weg der Gewalt nicht fortsetzen.“ Ich habe meine spezielle Berufung darin gefunden, von der Versöhnung zu sprechen.

Laut den Vereinten Nationen leben in Ihrer Heimat mehr als eine halbe Million Kinder ohne Eltern, zehntausende Frauen sind verwitwet, und Burundi gilt wirtschaftlich als eines der ärmsten Länder der Welt. Bis heute leiden die Menschen unter der jahrzehntelangen Gewalt im Land. Ist Versöhnung in einem Land mit einer so leidvollen Geschichte überhaupt möglich?

Versöhnung ist nicht eine Initiative, die nur auf gesellschaftlicher Ebene zu denken ist. Sie beginnt genau dann, wenn ich meinem Nächsten, dem ich etwas Schlechtes angetan habe – sei es in der Familie, in der Nachbarschaft –, begegne. Das ist die einzige Möglichkeit für uns Menschen, mit unserem Nächsten wieder gut zu sein, mit meinem Bruder, mit meiner Schwester. Wenn ich nicht vergebe und das Zusammenleben nicht mehr pflegen kann, dann ist das Leben auch für mich als Einzelner nicht mehr möglich. Das Leben jedes Menschen ist immer auch ein Mit-Leben, denn niemand kann alleine leben. In diesem Zusammenhang ist es
wichtig zu wissen, dass Versöhnung die einzige Möglichkeit ist, voranzukommen, um letztendlich sagen zu können: Ja, ich möchte mit dir weitergehen.

„Wer Vergebung verweigert, lässt sein Herz verwildern.“
Erzbischof Simon Ntamwana

Wie kann das Ihrer Meinung nach praktisch geschehen, also: Was brauche ich, damit ich mich mit meinem Gegenüber versöhnen kann und „weitergehen“ kann?

Hier spreche ich von den drei Ebenen der Versöhnung: Versöhnung mit mir, mit dem Bruder und der Schwester und Versöhnung mit Gott: Diese drei Formen gehören zusammen. Die erste Ebene ist tatsächlich, sich mit sich selbst auszusöhnen, mit sich selbst „fertig“ zu sein. Erst dann kann ich mich im Leben einsetzen. Solange ich gespalten bin und sich, in meinem Fall, die beiden Simons in meiner Brust nicht miteinander versöhnen und zu einem Simon werden, solange kann ich mich nicht engagieren, kann nicht weitergehen. Um im Leben vorwärts zu kommen, muss ich im Reinen sein mit mir und brauche Mut. Deshalb ist diese erste Stufe sehr wichtig: die Versöhnung mit sich selbst. Erst danach kommt als nächster Schritt die Versöhnung mit dem Anderen. Und diese zweite Stufe führt mich gleichzeitig hin zur Versöhnung mit Gott. Die Gegenwart Gottes erfahre ich, sobald ich mit dem Anderen versöhnt bin.

Damit diese Versöhnung voranschreiten kann, haben Sie ein Hilfswerk gegründet (siehe Spalte rechts) und wunderbare Menschen gefunden, die im Geiste der Versöhnung tätig sind, etwa in Waisenhäusern. Gibt es etwas, worauf Sie ganz besonders stolz sind und worauf Sie gerne zurückblicken als „Ergebnis“ Ihres Einsatzes?

Was mich am meisten erfreut, das ist der wiedergeliebte Mensch: das lebendige Kind, das gestorben wäre und jetzt lebt – in einem unserer Waisenhäuser oder bei einer Pflegemutter. Oder wenn Menschen sich versöhnen, wie im Rahmen der Initiative „Meine Ziege lebt in Burundi“. Es beginnt damit, dass eine Frau sagt: „Ich möchte eine Ziege haben, um meine Familie zu ernähren und meine Kinder erziehen zu können.“ Wir sagen ihr, dass wir versuchen, diese Ziege zu finden, aber wir wollen auch, dass sie den ersten Abkömmling einer anderen Witwe weiterschenkt, damit auch sie etwas Freude hat. Und wenn diese Frau damit einverstanden ist, erhält sie eine Ziege. Drei bis fünf Monate später treffen wir die Frauen wieder als zwei Freundinnen, die sagen: „Wir lieben uns nun. Wir haben einander eine Ziege geschenkt.“ Jede fühlt sich verantwortlich für das Gute der anderen.

… ist das die Liebe, von der wir sprechen, wenn wir an Weihnachten denken, das für uns Christinnen und Christen das Feste der Liebe und der Versöhnung ist?

Ja. Und diese Liebe möchte ich: Eine Liebe, die sich hingibt und die zugleich empfängt. Wie bei der Ziegenverteilung, wo man bekommt und weiterschenkt. Wenn wir die Welt so weiterentwickeln, dass sich beide Formen von Liebe treffen können, dann gibt es vollkommende Liebe in der Welt. Und dann können wir sagen: Ja, heute ist es möglich, dass der Himmel hier auf Erden ist.

Das Interview führte Anna Maria Steiner

 Simon Ntamwana | Foto: Missio

Friedens-Ikone von Burundi

„Wer Vergebung verweigert, lässt sein Herz verwildern.“ Mit dieser Aussage und mit seinem bedingungslosen Einsatz für Versöhnung wurde Simon Ntamwana in Burundi und über dessen Landesgrenzen zum Vorbild für den Frieden. Im Jahr 1946 in Mukene im damaligen Königreich Burundi zur Welt gekommen, trat er 1963 ins Priesterseminar in Bujumbura ein und studierte ab 1967 Theologie und Philosophie in Rom. Sieben Jahre später wurde er zum Priester geweiht und promovierte zum Doktor der Theologie. Als 1972 der überwiegende Teil seiner Familienangehörigen bei den gewaltsamen Unruhen in Burundi ermordet wurde, begann sein Einsatz für den Frieden. Simon Ntamwana kehrte zurück nach Burundi, wo er 1988 von Papst Johannes Paul II. zum Bischof der Diözese Bujumbura geweiht wurde. Als erster burundischer Bischof aus der Ethnie der Hutu gründet er das Hilfswerk „Neues Leben für Versöhnung“ („Vie Nouvelle pour la réconciliation“), dem bis heute Geistliche als auch Laien angehören. Mit Partnern wie der Caritas der Diözese Graz-Seckau werden karitative Projekte für Witwen, Waisen und Menschen in Gefangenschaft ins Leben gerufen – darunter das Hilfs- und Versöhnungsprojekt „Meine Ziege lebt in Burundi“. Nach einem Mordanschlag auf Bischof Simon und der Ermordung des Erzbischofs der Erzdiözese Gitega wird Simon Ntamwana 1996 zum Erzbischof ernannt und hat dieses Amt bis Februar 2022 inne. Er widmet sich weiterhin der Friedens- und Versöhnungsarbeit in Burundi.

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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