Besinnung

Gebet der Unbeugsamen

In diesen Kriegstagen habe ich Antwort auf die Frage bekommen, die einmal ein deutscher Philosoph stellte: Wozu Dichter in dürftigen Zeiten? Der Schmerz, den heute die meisten spüren, ist nicht mehr in Worte zu fassen oder in Bildern zu zeigen. Kateryna Kalytko, die in den letzten Jahren zu den mächtigsten poetischen Stimmen der Ukraine gehört, reagiert auf die grausamen Nachrichten aus der befreiten Geisterstadt Isjum sofort, in der Nacht schreibt sie ein bis ins Mark erschütterndes Gedicht, ein Gebet, das ich auch sofort übersetzen musste.

Chrystyna Nazarkewytsch

18. September 2022, Nacht.
Vater unser, der du bist in den unbefiederten Herzen, in den mit Draht zusammengebundenen Armen, im trockenen Lehm unter den Nägeln, in den ungehobelten Brettern der Kreuze.
Geheiligt werde jeder aufgefundene Name, jeder Schmerzbrand am Rande der Grube, jeder vergilbte Fetzen Haut, und jeder Soldat, der sich erbricht unter den Kiefern, und dann zurückkehrt, um weiter zu graben.

Unsere Armee soll kommen. Menschen in weißen Monturen sollen kommen. Internationale Rechtsanwälte sollen kommen. Unsere untröstlichen Verwandten sollen kommen. Wie im Himmel so auf Erden soll es eng sein von unserem stummen Schrei, im redlichen Licht unseres Hasses kann man bis drei Generationen nach vorne sehen.
Gib uns täglich Vor- und Familiennamen, sie sollen auf Gräber geschrieben stehen, gib uns unsere Köpfe zurück, unsere Gesichter, und unsere Tätowierungen.

Und vergib uns nichts, auch wenn du es wolltest – weil auch wir nicht vergeben unseren Schuldigern, wir stehen vor deinem Jüngsten Gericht wie ABC-Schützen an der Tafel, mit aufgeschlagenen Seelen, die mit blutiger Tinte eng beschrieben sind – lauter Lehrereinträge.

Aber führe uns nicht zum Verhör in die Folterkammer im Keller, lege uns nicht in die von Fremden ausgestampfte Erde, in die Finsternis der Geschichte, in Vergessenheit.

Aber erlöse uns vom Körperwissen, nimm uns das Geräusch der zerdrückten Wirbeln, das Knacken der zerbrochenen Kniescheiben, die zerschnittenen Sehnen, das leise Rauschen des Bluts, erlöse uns vom Klumpen in den Mündern, die mit Erde verstopft sind.

Denn dein ist der Krieg, und das Tier, und die Macht, und der Ruhm, und die Exhumierungen,
und der schwere Dunst über dem Grab,
in dem Vater und Sohn gemeinsam verscharrt wurden.

Heute, und jederzeit und in alle Ewigkeit.
Wir haben das Gebet gut gelernt.
Warum stellst du uns keine Fragen?

Kateryna Kalytko
Erstveröffentlicht in: Manuskripte 238/2022

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.

Powered by PEIQ