Memoiren eines unbeugsamen Christen, Folge 5
Abbé Pierre

Damals stellte ich etwas Eigenartiges im Leben dieser Jugendlichen fest: Sie alle freuten sich über das Ende des Weltkriegs, doch die tiefsinnigsten unter ihnen, ob von den Sieger- oder Verlierernationen, waren besorgt und zweifelten an einem Sinn des Lebens.

Das war die Zeit, da man die Schrecken erregenden Konvois aus den Vernichtungslagern der Nazis zu Gesicht bekam. Ich erinnere mich an ein junges Mädchen, das als Freiwillige des Roten Kreuzes in einem großen Pariser Hotel, das als Transitlager diente, half und sich um diese bis auf das Skelett abgemagerten Menschen zu kümmern hatte. Die junge Frau von zwanzig Jahren bekam dabei einen solchen Ekel vor dem menschlichen Leib, auch vor ihrem eigenen, dass sie Jahre brauchte, bis sie sich wieder normal fühlen konnte.

Im Lager der Sieger begann man allmählich die Folgen der Atombomben über Japan zu begreifen, obwohl man die ganze Wahrheit auch heute noch nicht kennt. Nicht bloß, dass die beiden Bomben innerhalb eines Augenblicks 180.000 Menschenleben auslöschten, sie verunstalteten auch die Babys im Mutterleib (…). Diese Jugend, konfrontiert mit der Ungeheuerlichkeit dessen, was der Mensch anrichten konn­te, verzweifelte an der Menschheit. Viele zweifelten sogar, ob es sich lohne, zu leben. Als ich das Evangelium im Gedanken an diese verstörte Jugend las, kam mir die Emmausgeschichte (Lk 24) unter die Augen. Ich war innerlich berührt von der Hoffnungslosigkeit dieser zwei Jesusjünger, die nach seiner Hinrichtung aus Jerusalem flohen.

Am Palmsonntag, beim Einzug in Jerusalem, der einer Art Parade auf den Champs-Elysées glich, hatten sie doch gemeint, dass ihr Jesus, von der ganzen Stadt im Triumph begrüßt und zu ihrem König proklamiert, die römische Besatzungsmacht verjagen würde. Doch wenige Tage darauf kommt am gleichen Ort in Getsemani sein Todeskampf. Keinerlei Wunder mehr von ihrem König Jesus. Stattdessen lässt er sich völlig wehrlos misshandeln und quälen wie nur irgendwer. Und schließlich endet er am Kreuz wie ir­gend­ein Bandit.
Dieser tödliche Schreck fährt in all seine Jünger. In Furcht vor der römischen Soldateska und den Tempelpriestern fliehen sie schleunigst aus der Stadt. Das ist das totale Scheitern der Sache Jesu. Auch diese zwei ergreifen wie alle andern – außer den Frauen – die Flucht.

Und siehe da, auf ihrem Fluchtweg gesellt sich gegen Abend ein Dritter zu ihnen. „Was schaut ihr so verstört drein?“, fragt er. Da staunen sie und fragen: „Bist denn du der Einzige, der in Jerusalem heute noch nicht verstört ist? Weißt du denn nicht, was da geschah?“ Und sie erzählen ihm die Tragik der vergangenen Tage. Der unbekannte Wandergenosse, kein anderer als der lebendige Jesus selber, zitiert ihnen unzählige Bibelstellen, die von einem Heil für Israel durch vielerlei Tragik und Leiden berichten. Dass selbst der Messiaskönig ein Gede­mütigter und von Leiden Gezeichneter sein würde, ganz das Gegenteil von dem, was sie sich von einem allmächtigen Triumphator erträumt hatten.

Da kommen sie zum Gasthaus und wie die zwei einkehren wollen, gibt der Dritte zu erkennen, dass er weiterziehen wolle. Doch da sagen die zwei jenes Wort, das ich immer so gerne höre: „Bleib doch bei uns, denn es wird ja bald Nacht und der Tag ist schon vorbei!“

Das ist das Schriftwort, das wir gerne auf die Grabmäler unserer Gefährten eingravieren.
Bei Tisch nimmt der Wanderkamerad das Brot, spricht den Segen, bricht es und teilt es mit ihnen – und in diesem Moment erkennen sie ihn, doch im selben Augenblick ist er ihnen entschwunden. Da sagen sie zueinander: „Brannte denn nicht unser Herz die ganze Zeit, da er uns die Schrift eröffnete?“

Die Rückkehr des Glaubens kam ihnen nicht dank eines logischen Vernunftarguments, sondern in einem Liebesakt: „Unser Herz war in Flammen.“ Das ist doch großartig! Da ist genau beschrieben, wie diese feigen Ausreißer verwandelt werden. Die Furcht vor dem Lebensrisiko wegen ihres Jesus ist wie weggeblasen:
Noch in der Nacht eilen sie ihren Weg zurück, um ihren Kameraden zuzurufen, dass ihr Jesus lebe. Sie hasten in den Abendmahlssaal, wo sie ihre Apostel sicher verriegelt wähnen, und rufen nichts als: „Jesus lebt!“ Da tönt es ihnen entgegen: „Ja so ist es! Er hat sich dem Petrus gezeigt!“ Und fortan zeigte er sich ihnen noch mehrmals in seinem Herrlichkeitsleib, wie der unsere auch sein wird am Jüngsten Tag.

Als ich diese Geschichte von den „Em­maus­jüngern“ meditierte, wurde in mir meine Lebensphilosophie geboren, die ich „die enthusiastische Desillusionierung“ nen­ne. Gleich nahm ich ein Brett und einen Farbtopf und schrieb mit großen weißen Buchstaben EMMAUS darauf. Dann hängte ich es als unseren Namen an das Eingangsgitter unseres Gartens.

Natürlich fragt man mich ständig, was das denn heißen soll. Da begann ich der Jugend zu erklären, dass das Leben von Anbeginn darin bestehe, uns von unseren Illusionen zu befreien. Ein Kleinkind versucht ja alles, das auf es Eindruck macht, zu berühren, selbst wenn es ein Feuer wäre. Erst wenn es sich gebrannt hat, wird es sich davor hüten. Es lebte in einer Illusion, von der es in Zukunft befreit ist.
Uns Erwachsenen geht es immer noch ebenso. Fortwährend haben wir uns unserer falschen Illusionen zu entledigen, um der Wirklichkeit näher zu kommen. Nur dann können wir den eigentlichen, illusionsfreien Enthusiasmus entdecken. (…)

Das versuchte ich dieser Nachkriegsjugend zu erklären: „Ihr lebt in Enttäuschung. Doch wenn ihr ins wirklich illusionsfreie Leben eintreten wollt, um dem ‚Ewigen, der Liebe‘ zu begegnen, habt ihr euch zuvor von allen falschen Illusionen zu befreien.“
Fortsetzung folgt

Autor:

Kirche bunt Redaktion aus Niederösterreich | Kirche bunt

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