Kirchen
Christentum zwischen Kultur und Religion

Der russische Patriarch Kyrill I. wird innerhalb und außerhalb seiner Kirche dafür kritisiert, dass er Präsident Putins Krieg gegen die Ukraine mit Predigten unterstützt. | Foto: IGOR PALKIN / AFP
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  • Der russische Patriarch Kyrill I. wird innerhalb und außerhalb seiner Kirche dafür kritisiert, dass er Präsident Putins Krieg gegen die Ukraine mit Predigten unterstützt.
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Durch die russisch-orthodoxe Kirche geht ein Riss. Während der Moskauer Patriarch Kyrill I. den Überfall Russlands auf die Ukraine als Verteidigung gegen westliche „böse Mächte“ sieht, verurteilen immer mehr Russisch-Orthodoxe in der Welt und in Russland die Gewalt gegen das Nachbarland. Die Ukraine wird umkämpft, doch der Konflikt ist breiter und betrifft nicht nur die russisch-orthodoxe Kirche. Auch in anderen Kirchen und Gesellschaften schwelt ein Konflikt der Kulturen. Das Christentum sei nicht dazu da, irgendeine Politik zu beweihräuchern, sagt der Theologe Franz Gmainer-Pranzl.

Interview: Monika Slouk

Patriarch Kyrill I. nannte „Gay Pride Paraden“, also öffentliche Demonstrationen homosexueller Menschen, als einen Grund, warum Russland sich und die Ukraine vor dem Westen „schützt“. Man befinde sich in einem Kampf, so Kyrill, der „keine physische, sondern eine metaphysische Bedeutung hat“. Welche Kulturen prallen aufeinander?
Franz Gmainer-Pranzl: Während sich die Ukraine in Richtung einer demokratischen Gesellschaft entwickelt, hat die russische Gesellschaft starke Tendenzen zu einer autoritären Gesellschaft. Diese Tendenzen gibt es übrigens auch in westlichen Gesellschaften, Stichwort Donald Trump. Nun besteht offenbar die Angst, dass der Funke der liberalen Gesellschaft auch auf Russland überspringt. Militärisch-strategisch geht es wohl auch um Gebiete, die man haben will, um Einfluss, den man ausüben will. Und zwar nicht im Sinne eines Aushandlungsprozesses, sondern so, wie man es aus dem 19. und 20. Jahrhundert kennt: Man erobert ein Gebiet.

Das Denken des 19. Jahrhunderts prägt uns mehr als wir glauben. Heute reiben sich Parteien an Themen wie Lebensform, Homosexualität, Abtreibung. Es gibt Extreme in alle Richtungen. Wie entsteht konstruktive Gemeinsamkeit?
Gmainer-Pranzl: Viele Menschen fühlen sich von der Modernisierung der Gesellschaft überrollt. Modernisierung heißt auch Individualisierung und Pluralisierung. Traditionelle Gesellschaften sind gleichsam kollektiv, von einer Meinung und einer Zugehörigkeit bestimmt. Moderne Gesellschaften sind anstrengender, weil wir z. B. zwischen unterschiedlichen Lebensformen, Familienformen und Rollenbildern wählen müssen. Manche sehen das als Befreiung, für andere ist es eine Bedrohung.

Kyrill I. wettert seit vielen Jahren gemeinsam mit dem Kreml gegen westliche „böse Mächte“. Die Verunsicherung gibt es aber nicht nur in Russland.
Gmainer-Pranzl: Interkulturelle Theologie setzt sich gerade auch damit auseinander, in welcher Wechselwirkung das Christentum mit einer sich verändernden Gesellschaft steht. Das ist weltweit so, nicht spezifisch russisch oder europäisch. Was heißt christlicher Glaube in einer sich verändernden Gesellschaft? Natürlich geht es nicht darum, dass das Christentum einfach auf der letzten Welle mitschwimmt und alles, was in der Gesellschaft gerade „in“ ist, nachmacht. Christ/innen müssen genau hinschauen: Wie bringen wir uns profiliert in Politik und Gesellschaft ein? Das Christentum – egal, ob protestantisch, katholisch, anglikanisch, orthodox … – ist nicht dazu da, irgendeine Politik zu beweihräuchern, ist auch nicht dazu da, frontal gegen irgendjemanden zu sein, sondern aus dem Evangelium heraus kritisch differenziert Stellung zu nehmen. Die Partei der Kirche sind immer die Armen, sonst nichts.

Wie kann die Stellungnahme aussehen?
Das, was der Kirche zu allen Zeiten als wichtigstes Mittel zur Verfügung steht, ist das Zeugnis. Wenn die Kirche für etwas plädiert, soll sie es leben und vorleben. Wenn das etwas Attraktives ist, wird es sich durchsetzen, davon bin ich überzeugt. Auch in anderen Debatten, etwa bei Pflege und assistiertem Suizid. Menschen, die aus dem christlichen Glauben leben, können vorzeigen, wie man damit umgeht. Sie müssen nicht mithilfe der Politik dem ganzen Land etwas vorsetzen. Auch die Abtreibungsfrage ist seit Jahrzehnten ein neuralgischer Punkt. Niemand verbietet der Kirche und ihren Mitgliedern, in dieser Frage so zu leben und zu handeln, wie es ihrer Überzeugung entspricht. Das kann in der Gesellschaft einiges bewirken.

Noch einmal zum Ukraine-Konflikt. Welche Rolle spielt Angst? Präsident Putin begründet seine Angst mit der NATO, das Volk in Russland hat Angst vor Putin und dem Westen gleichzeitig, Kyrill I. hat vielleicht auch Angst vor Putin.
Gmainer-Pranzl: Ich war nie in Russland und möchte aus der Ferne keine Beurteilung abgeben. Ja, man hat das Gefühl, es herrschen Angst, Druck und Gewalt. Trotz ihrer scheinbar starken Stellung im russischen Staat scheint die russisch-orthodoxe Kirche abhängig zu sein; der Patriarch wirkt wie Putins Hofkaplan. Auch in Österreich hat die katholische Kirche übrigens nicht immer prophetisch und kritisch gewirkt. Daher bin ich vorsichtig mit einem Urteil.

Mit dem Krieg will Russland seine Rolle als Großmacht wiedererlangen. Was, wenn das gelingt?
Gmainer-Pranzl: Im Denken des 19. Jahrhunderts musste eine sogenannte Großmacht immer gegen jemanden sein und erreichte Bewunderung nur durch Angst, Schrecken und Militär. Ich definiere Großmacht anders. Für mich sind die 17 nachhaltigen Entwicklungsziele der UNO aus dem Jahr 2015 wesentliche Kennzeichen einer Großmacht. Gleichberechtigung der Frauen, Sicherheit, Wasser, Klimafragen und alle diese Themen. Eines der 17 Ziele ist übrigens Frieden. Ein entwickeltes Land ist ein Land, das sich mit aller Leidenschaft für den Frieden einsetzt. Das Hochrüsten, das jetzt wieder propagiert wird, steht immer noch in der Logik des „Gleichgewichts des Schreckens“ aus dem Kalten Krieg. Das ist keine konstruktive Friedenslösung. Wenn ein Land durch Vermittlung zur Friedenssicherung beiträgt, ist das für mich eine Großmacht. Mit Panzern in Kliniken hineinzuschießen ist für mich kein Zeichen einer Großmacht, sondern Ausdruck völliger Desorientierung.

„Mit Panzern in Kliniken zu schießen, ist kein Zeichen einer Großmacht.“

FRANZ GMAINER-PRANZL

Putin wird immer wieder mit Hitler verglichen. Gibt es etwas Teuflisches in der Politik?
Gmainer-Pranzl: Das sind gefährliche Kategorien. Man muss historisch sagen: Die Sowjet-union hat Österreich maßgeblich vom Nationalsozialismus befreit, und viele Soldaten der Roten Armee haben ihr Leben im Kampf um Wien verloren. Das sage ich nicht, um Sympathie für Stalin auszudrücken. Damals wie heute fehlen in Russland offenbar demokratische Strukturen, die einen Mann wie Putin einbremsen können. Sogar bei Donald Trump ist das immer wieder gelungen, weil es unabhängige Gerichte usw. gibt. In Russland geht das nicht. Da gibt es außer diesem einen „Zaren“ keine Struktur, die einen Ausgleich schafft. Putin befahl ein Gesetz, dass bis zu 15 Jahren ins Gefängnis kommt, wer über Krieg berichtet. Am selben Tag noch wurde das durchgewunken. So etwas gibt es in einer Demokratie normalerweise nicht. Ein Gesetzesentwurf wird diskutiert und findet am Schluss eine Mehrheit oder nicht. Mit Reden von „teuflisch“ wäre ich vorsichtig. Das ist ein undefinierbarer Begriff. Aber diese Kombination aus einer Persönlichkeitsstruktur, die offenbar intensiv vom Revanchismus geprägt ist und ständig aus Demütigungen heraus agiert, und defizitären demokratischen Strukturen bewirkt eine ganz schlechte Politik, die sich nur an Hass und Gewalt orientiert.

Auch russisch-orthodoxe Pfarrer richten sich gegen Gewalt.
Gmainer-Pranzl: Der Protest wird wachsen und könnte Putin das Amt und das Leben kosten. Er hat hier wirklich ohne Not eine rote Linie überschritten und sein Land in die schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg gestürzt. Ich ziehe den Hut vor Menschen, die immer noch in Russland demonstrieren.

Langfristiges Ziel für Kirchen

Frieden schaffen

Orthodoxe Patriarchen und Metropoliten äußerten sich zum Krieg in der Ukraine sehr unterschiedlich. Manche verurteilten Krieg im Allgemeinen, andere sprachen Putin direkt an, wieder andere riefen zur Verteidigung der Ukraine auf, andere äußerten sich gar nicht. Manche wiederum, wie Patriarch Kyrill I., finden gute Gründe für die russische „Militäroperation“.
Der russisch-orthodoxe US-Amerikaner Nicholas Sooy fasst in seinem Artikel „Does it Matter What Bishops Say?“ (Ist es wichtig, was Bischöfe sagen?) die Varianten zusammen und weist darauf hin, dass sie keinen direkten Einfluss auf den Kriegsverlauf haben. Dennoch ist er überzeugt, dass die Stimmen der Kirchen langfristig Bedeutung haben.

Frieden im Blick behalten. Während die Kirchen kurzfristig Menschen in Not helfen sollen – Verwundeten, Flüchtlingen, Verzweifelten –, ist es ihre langfristige Aufgabe, unbeirrbar an der Etablierung von „Friedenssystemen“ mitzuwirken, Gemeinschaftsgefühl, soziale Verbundenheit, gewaltfreie Werte, Normen und Rituale zu entwickeln. „Lasst uns sofort damit anfangen“, ruft Sooy auf.
incommunion.org

Nicholas Sooy, russisch-orthodox, ist Redakteur des Online-Mediums „In Communion“ der orthodoxen Friedensgesellschaft „Orthodox Peace Fellowship“ und Lektor für Philosophie an der jesuitischen Fordham University in New York

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