Memoiren eines unbeugsamen Christen, Folge 13
Abbé Pierre

Mein erster Kontakt mit Pius XII. war indirekt, doch lud er mir eine schwere Verantwortung auf. Am 16. Juni 1944 war ich in Algier angekommen, nachdem ich am 18. Mai 1944 wegen meines geheimen Übertritts über die spanische Grenze festgenommen worden war. Doch ich floh aus der Haft und gelangte nach Algier.

Sobald ich in Algier angekommen war, bat man mich, auf der Radiowelle zu sprechen, die man damals schon „Radio der Vereinten Nationen“ nannte. Damals gab man mir von den verschiedensten falschen Identitäten, hinter denen ich mich während meiner zwei Jahre im nationalen Widerstand hatte verbergen müssen, den Namen „Abbé Pierre“, der mir fortan blieb. Ich erfand ihn, um nicht durch irgendeine Indiskretion meine zahlreiche Verwandtschaft in Frankreich mit meinem Familiennamen in Gefahr zu bringen. Seither bin ich in allen meinen Ausweispapieren nur unter diesem Namen bekannt.

Am 3. August kam ein Priester des Erzbischofs zu mir. Er brachte mir ein päpstliches Dokument, das bisher vor der Öffentlichkeit geheim gehalten worden war.

In Frankreich wussten wir um den Eifer unseres Kardinals Tisserant, der in Rom seit der deutschen Besetzung des Südens und dem Beginn der Résistance auf den Papst einzuwirken versuchte. Er bestand darauf, dass der Papst den Priestern, die unter Gefahr bei der nationalen Widerstandsbewegung kämpften, ein Zeichen der Ermunterung geben müsse. Seine diesbezüglichen Bemühungen waren bisher erfolglos geblieben. Hingegen enthielt genau dieses Dokument des Erzbischofs die römische „Antwort“, die mir übergeben wurde, um sie über das Radio publik zu machen.

Doch in dieser heißesten Stunde unseres nationalen Kampfes war meine antikuriale Revolte gegen diesen vatikanischen Text unerbittlich.
Es handelte sich um die Antwort des Substituten Msgr. Tardini im Staatssekretariat seiner Heiligkeit, adressiert an Kardinal Tisserant, unter dem Datum des 13. Juni. Msgr. Tardini war sicher nicht persönlich am pompösen Stil seines Textes schuld, der nur der Gepflogenheit seines Amtes entsprach. Zwei Jahre lang hatte Tisserant alles versucht, und noch am 2. Juni, das heißt am Vorabend der alliierten Landung in der Normandie, hatte er seinen letzten Versuch unternommen, eine päpst­liche Ermunterung zu erwirken. Am 13. Ju­ni erst, als die Landung der Befreier bereits geglückt war, erhielt er folgenden Text im Namen Pius’ XII. und unterzeichnet von Domenico Tardini:

„Ich habe die Ehre, Eurer Erlauchten Eminenz auf Geheiß meines Eminenten Vorgesetzten mitzuteilen, dass Ihr Brief, datiert vom 2. Juni, bezüglich des geistlichen Beistands der im ‚Maquis‘ (franz. Partisanen der Résistance im Zweiten Weltkrieg, Anm.) kämpfenden Männer durch mich der erhabenen Beachtung des Heiligen Vaters unterbreitet wurde. Seine Heiligkeit hat in brüderlicher Eile erwogen, was Eure Eminenz seiner Erwägung unterbreitet hatte. Er hat mündlich angeordnet, dass der französische Episkopat für die spirituelle Betreuung der Kämpfenden Sorge tragen soll und zu diesem Zweck den Index Facultatum der Konsistorialkongregation, publiziert unter dem Datum des 8. Dezember 1939, anwenden soll. Der Apostolische Nuntius in Frankreich ist von diesem souveränen Entscheid informiert worden.“

Am Abend desselben 3. August verlas ich die­ses Dokument im Radio trotz meines Widerwillens gegen die angebliche „brüderliche Eile“, um den noch Zögerlichen mitzuteilen, dass die höchste moralische Autorität sie nun endlich zum Handeln ermuntere. Ich kommentierte die Lesung mit den folgenden Worten, die mir dann Vorwürfe eintrugen: „Hier wird also, seit Rom befreit ist, unseren ‚Pries­tern im Maquis‘ Recht zugebilligt, die sich ohne Zögern seit den ers­ten Minuten der Deportationen zur Unterstützung des Widerstands entschlossen hatten und unserer kämpfenden Jugend beigestanden sind, im Widerstand gegen jede Beleidigung und Beschämung, im sicheren Instinkt ihres Gewissens und entschlossen, mit dem Betrug einer erheuchelten Legalität zu brechen und sich damit den Schimpfnamen ‚Renegaten‘ zugezogen hatten … Es ist gut, für Söhne und Freunde endlich die Stimme ihres Vaters in Rom zu vernehmen, der sagt: ‚Gut so!‘“ („Der Betrug einer erheuchelten Legalität“ meint die von vielen Katholiken unterstützte, mit den deutschen Besetzern kollaborierende Vichy-Regierung, Anm.).
Zwei Tage darauf lud mich de Gaulle zum Frühstück ein. Bei unserer Konversation, die er wie gewohnt mit seinen freundlichen Spötteleien zu würzen verstand, gratulierte er mir zum „neutralen Ton“, mit dem ich das römische Dokument kommentiert hatte!

Als der Krieg endete, wurde ich ohne besondere Kompetenz zum Abgeordneten gewählt, und während sechs Jahren bat ich zweimal um eine päpstliche Audienz. Doch nie haben wir bei diesen Gelegenheiten über die Kriegszeit ein Wort verloren.

Das war die Zeit, da ich die Exekutive des MUCM, der „Weltbewegung für Föderalismus“, leitete. Deren letzter Kongress, den ich zu leiten hatte, fand in Rom statt. Der Rat der Bewegung hatte um eine päpstliche Audienz gebeten.

Wir waren Delegierte aus allen Nationen und Religionen der Welt. Im Moment, da der Papst aus seinem Ärmel seine sorgfältig redigierte Rede zog, die noch am gleichen Tag im Osservatore Romano erschien, erkannte er unter uns einen protestantischen Pastor, André Trocmé, einen der bewundernswertesten Retter jüdischer Kinder, und der Papst sagte mir: „Wollen Sie vielleicht den Herrn Pastor fragen, ob es für ihn nicht ein wenig peinlich sei, auf einem Foto neben dem Papst zu erscheinen?“ Er stand zwei Schritte neben Pius XII. und sagte: „Weshalb meinen Sie, es wäre mir unangenehm, auf einem Foto neben meinem Bruder in Christus zu erscheinen?“ Fortsetzung folgt

Autor:

Kirche bunt Redaktion aus Niederösterreich | Kirche bunt

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