Erzählung
Und die Blätter fielen

Foto: Leopold Schlager

Unvermittelt kam der Wintereinbruch. Ich fand gerade noch Zeit, um die Winterreifen zu montieren. Der nächtliche Schneefall setzte einem sonnigen Oktober ein jähes Ende. Das Tüpfelchen auf dem I in dieser weißen Pracht waren die Blätter von Kastanien, Ahorn und Platanen, die nur auf den ersten Frost als Signal zum Fallen gewartet hatten und die nun, nach dem Ende des Schneefalls, in bunten Ringen rund um die plötzlich kahlen Bäume lagen. Es waren verlockende Fotomotive, doch ich war auf dem Weg zum Bahnhof, um dort einen Mitreisenden abzuholen.
Der Zug hatte fast eine Stunde Verspätung. Die Fotos, die ich liegen ließ, machten andere; ich sah sie im Internet. Der Schnee war von Osten gekommen – ein typisches Adriatief. Auf der Fahrt Richtung Westen besserten sich die Verhältnisse. Im Inntal grasten Kühe auf leicht „angezuckerten“ Weiden. Mit nur wenig Verspätung traf ich mit meinem Kollegen aus Wien in Brixen zur Jahreskonferenz der österreichischen Kirchenzeitungen ein. Zu diesem Kreis gehört auch das Südtiroler „Sonntagsblatt“.
Es klarte auf, die Nacht war eisig, auch hier waren die Berge nun bis weit nach unten mit Schnee bedeckt. Am Beginn der eigentlichen Konferenz stand eine Begegnung mit dem damaligen Bischof von Bozen-Brixen und Bibel-Experten Wilhelm Egger. Ich kam in dem Tagungsraum so zu sitzen, dass mein Blick genau auf eine mitten im Hof im Sonnenlicht stehende Kastanie fiel – eine goldene Pracht. Und mit der Sonne setzte eine seltsame Bewegung ein. Blätter fielen, kein Sturm, aber doch unentwegt. Was ich anfangs eher beiläufig zur Kenntnis nahm, fesselte zunehmend meine Aufmerksamkeit, Punkt für Punkt der Tagesordnung hindurch. Und die Blätter fielen …
Gegen Abend stand im Hof vorm Fenster der Kastanienbaum im letzten Licht des späten Nachmittags, schwarz und unbelaubt. Im Laufe eines einzigen Tages hat sich vor meinen Augen diese Wandlung vollzogen. Auch dieses Schauspiel habe ich nicht festgehalten. Und doch war ich mehr als entschädigt für alle versäumten Fotos – es war „ein Herbsttag, wie ich keinen sah“, einer von der Art, wie ihn Friedrich Hebbel in seinem „Herbstbild“ in Poesie verwandelt hat.
Leopold Schlager

Autor:

Leopold Schlager aus Niederösterreich | Kirche bunt

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