Reinhard Haller im Interview
Das Wesen der Kränkung ist die Bagatellisierung

„Sicher ist, dass jeder schon einmal Kränkungen erfahren hat. Man kann nicht nicht kränken, und man kann auch nicht nicht gekränkt werden. Beides geschieht oft unterbewusst“, sagt Reinhard Haller. Und: „Von außen betrachtet sind sie nichts 
Besonderes und nicht sonderlich traumatisierend. Subjektiv können sie aber die Welt bedeuten.“ 
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  • „Sicher ist, dass jeder schon einmal Kränkungen erfahren hat. Man kann nicht nicht kränken, und man kann auch nicht nicht gekränkt werden. Beides geschieht oft unterbewusst“, sagt Reinhard Haller. Und: „Von außen betrachtet sind sie nichts
    Besonderes und nicht sonderlich traumatisierend. Subjektiv können sie aber die Welt bedeuten.“
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Der Psychiater, Psychotherapeut, Gerichtsgutachter und Autor Reinhard Haller schrieb ein Buch mit dem Titel „Die Macht der Kränkung“. Im Interview spricht er über das Wesen und Folgen der Kränkung und fehlendes Bewusstsein in der Gesellschaft.

Herr Haller, worin liegt der Unterschied zwischen einer Verletzung und einer Kränkung?

Reinhard Haller: Kränkungen sind auch Verletzungen. Es sind aber keine großen Traumen, sondern Mikro-Traumen. Das Wesen der Kränkung ist die Bagatellisierung. Von außen betrachtet sind sie nichts besonderes und nicht sonderlich traumatisierend. Subjektiv können sie aber die Welt bedeuten.

Warum werden sie trotz ihrer Wirkkraft dann nicht ernst genommen?

Haller: Das hat unter anderem damit etwas zu tun, dass es keine wissenschaftliche Definition, folglich keine Diagnose und keine Psychotherapieschule gibt. Viele wollen sich mit richtigen Krankheiten und Traumen beschäftigen und eben nicht mit vermeintlichen Kinkerlitzchen. Das führt dazu, dass sich Betroffene oft nicht trauen, darüber zu sprechen. Weil sie denken: ,Ich bin doch kein Weichei, das ist doch blamabel, ich kann doch nicht über eine solche Kleinigkeit sprechen.‘ Dann fürchten sie sich und verdrängen ihre Verletzungen ein Stück weit. Und genau das ist der Nährbode, auf dem sich Kränkungen entwickeln – indem sie tabuisiert werden. Das kann schwerwiegende Folgen haben, bis hin zu Straftaten und Kriegen.

Wieso ist ihre Wirkkraft so enorm?

Haller: Weil sie die Menschen im Innersten treffen, weil sie die Angst vor Liebesentzug und Liebesmangel ansprechen, weil sie das Gerechtigkeitsgefühl verletzen und zu Enttäuschungen führen. Die Faustregel lautet: Je tiefer mich eine Kränkung trifft, desto wichtiger muss die kränkende Person für mich sein. Darum tun sie auch in Beziehungen, Ehen und Freundschaften besonders weh. Kränkungen berühren immer sensible Stellen in mir. Das können nicht verheilte Wunden und meine Werte sein. Außerdem haben sie immer auch einen wahren Kern, sonst könnten sie nicht wirken.

Und trotzdem stecken sie manche Menschen besser weg als andere.

Haller: Das hängt von der psychischen Konstitution und Empfindlichkeit eines Menschen ab. Ich muss die richtige Haut haben. Das heißt, sie darf nicht zu dünn sein, sonst bin ich zu kränkbar. Sie darf aber auch nicht zu dick sein, sonst bin ich gefühllos. Eine Rolle spielen zum Beispiel auch die eigenen Verarbeitungsmöglichkeiten. Es geht also darum, wie gelassen ich bin und wie viel Kritik ich ertrage. Sicher ist aber auch, dass jeder schon einmal Kränkungen erfahren hat. Man kann nicht nicht kränken, und man kann auch nicht nicht gekränkt werden. Beides geschieht oft unterbewusst.

Welche Folgen können sie noch nach sich ziehen?

Haller: Psychosomatische Reaktionen wie Depressionen oder Organbeschwerden. Und sie können auch maßgebliche Ursachen für Suchterkrankungen sein, weil etwa mit Alkohol versucht wird, die Kränkungen zu dämpfen. Aber sie können eben auch in Verbrechen münden. Beziehungstaten wie Frauenmorde sind oft Kränkungsdelikte, da geht es nicht immer um die großen Dinge wie Seitensprünge –sondern auch um die kleinen Stiche, die in ihrer Summe eine gewaltige Wirkung entfalten können. Auch Mobbing besteht aus systematischen Kränkungen. Es heißt ja nicht: ‚Mein Vorgesetzter hat mich mit der Waffe bedroht‘, sondern ‚Er hat meinen Gruß nicht erwidert, mir Informationen vorenthalten, mich während des Gesprächs nicht angeschaut‘ und so weiter.

Wie können wir diese Mechanismen in der Gesellschaft durchbrechen?

Haller: Erstens brauchen wir ein Kränkungsbewusstsein und mehr Sensibilität. Wir müssen also öfter fragen: Habe ich dich gekränkt? Und uns gegebenenfalls auch bewusst dafür entschuldigen. Zweitens brauchen wir Empathie, um die Motive des Anderen zu verstehen. Und wir müssen uns der eigenen Kränkungsgrenze und der des Anderen bewusst werden. Es hilft, sich seine eigenen Kränkungsmuster zu vergegenwärtigen. Dazu zählen Dinge wie im Streit nicht mit dem anderen zu reden oder Rache. Christlich gesprochen muss man versuchen, zu verzeihen und aus den Kränkungen eine Lehre ziehen.

Inwiefern?

Haller: Jede Kränkung hat einen wahren Kern, und sie gibt Aufschluss darüber, wo ich meine wunden Punkte habe. Und in dieser Persönlichkeitsentwicklung geht es letztendlich um Gelassenheit und ums Loslassen. Wobei Gelassenheit nicht Gleichgültigkeit heißt. Es ist der Versuch, alles sehr sensibel wahrzunehmen, ohne sich davon wegspülen und schädigen zu lassen.

Aber was einmal geschehen ist, lässt sich nicht mehr rückgängig machen.

Haller: Das stimmt. Ich kann das Buch der Vergangenheit nicht ungeschrieben machen, aber ich kann es zuklappen und es ins Regal stellen. Noch mal: Das höchste Ziel sollte die Gelassenheit sein. Dabei hilft es immer, die Kränkungen zur Sprache zu bringen. Es ist nicht gut, wenn man damit selbst fertig werden will. Das ist ein Eiterherd. Vielmehr hilft es, Verletzungen mit anderen zu besprechen, die nicht in dieser Kränkungsspirale gefangen sind.  Beate Laurenti / KNA

Autor:

Kirche bunt Redaktion aus Niederösterreich | Kirche bunt

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