Erzählung
In Großmutters Haus

Foto: markus thoenen – stock.adobe.com

Willst du das behalten oder soll es weg?“ Ihre Tochter zeigt ihr einen Stapel mit Tischdecken, die oft benutzt worden waren. Einige sind geflickt, aber fast alle von Hand bestickt. Sie schüttelt den Kopf. Sie berührt all die Dinge, die jahrzehntelang in diesem Haus gestanden haben. Die liebevoll zusammengetragen und sorgfältig verwahrt worden waren. Nun ist es ihr Haus. Es bedarf einer grundlegenden Renovierung. Sie leeren die Räume. Im Stall lagern die Möbel, die wegsollen und auch die, die bleiben. Langsam geht sie von einem Raum zum nächsten. Am Nachttisch steht noch die Flasche Franzbranntwein und in der Schublade die angebrochene Dose Hautcreme. Der kaputte Wecker liegt gleich daneben. Die Zeit scheint in diesem Haus stehen geblieben zu sein.
Gedanklich wird sie in ihre Kindheit versetzt. Im Kasten hängt noch ein alter Skioverall. Jeder Gegenstand erzählt eine kleine Geschichte. Mit der Übernahme des Hauses dachte sie, der Großmutter noch einmal nahe zu sein. Nun steht sie in den fast leeren Räumen. Ihre Familie befüllt Müllsäcke. Mechanisch stopft sie alte Romanhefte in die Papiertonne. Abends ist das Haus leer. Es dunkelt bereits, als sie sich im Vorraum noch einmal umblickt. Das Foto ihres Großvaters liegt im Korb. Mit ruhigen Bewegungen schließt sie die Tür ab.
„Ich dachte, das Ausräumen geht dir näher. Ich hatte Angst, dass es dir zu viel wird“, besorgt greift ihr Mann nach ihrer Hand. „Nein, ich weiß jetzt, dass meine Oma nicht in diesen Ziegeln weiterlebt. Hier ist sie Zuhause.“ Ihre Handfläche ruht auf ihrer Brust. Eine einzelne Träne läuft ihr über die Wange. K. S.

Autor:

Kirche bunt Redaktion aus Niederösterreich | Kirche bunt

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