Die Fähigkeit, vergeben zu können, ist essenziell wichtig ist für ein glückliches und befreites Leben.
Die Kraft der Vergebung

Wenn Friedrich Kopitar als Seel­sorger kranke oder sterbende Menschen im Krankenhaus besucht, dann geht es in den Gesprächen oft um Beziehungen, vor allem zu nahestehenden Menschen – zum Partner, Kindern und Geschwistern. Wer mit diesen Menschen und sich selbst im Reinen sei, so Kopitar, der könne auch einer Krankheit oder der letzten Phase des Lebens mit größerer Gelassenheit be­gegnen und sogar Zufriedenheit erfahren.
„Ich selbst möchte nicht in Unfrieden sterben“, dachte sich der ehrenamtliche Krankenhausseelsorger vor einigen Jahren und beschäftigte sich in der Folge mit dem Thema Vergebung: Was steht der Vergebung im Weg? Wie macht man das, nach einer Kränkung dem anderen zu vergeben? Seine Er­fahrungen gibt Friedrich Kopitar im Rahmen des Katholischen Bildungswerks in den Pfarren mit Vorträgen über die „Kraft der Vergebung“ weiter – ein Thema, das alle Menschen gleichermaßen betrifft, wie er sagt.

Es gäbe drei Möglichkeiten, auf eine Kränkung zu reagieren, so Kopitar. Die eine sei die Rache: „Ich zahle es ihm oder ihr heim!“ Die zweite Reaktionsweise richtet sich gegen sich selbst: Ich versuche zu verdrängen, klage mich selbst an, trage es dem anderen nach oder ziehe mich verletzt aus Beziehungen zurück – alles selbst-schädigende Verhaltensweisen. Die dritte Möglichkeit sei die Vergebung – ein rein innerseelischer Prozess, den der Mensch mit sich selbst ausmache. So könne jeder – unabhängig vom Verhalten des anderen – entscheiden, ob er eine Kränkung nachträgt oder vergibt.

Kein einfacher Willensakt, sondern ein längerer Prozess

Vergebung ist allerdings nicht ein einfacher Willensakt, sondern ein längerer, sich manchmal wiederholender Prozess in mehreren Schritten. Je schwerer die Verletzung, etwa bei einer Scheidung, umso länger kann dieser Prozess dauern.

Der erste Schritt bestehe darin, so Kopitar, auf die eigene Würde zu achten und die „Selbstliebe“ zu stärken. Die Aufforderung Jesu „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ beinhaltet die Selbstliebe. Und wer sich selbst achtet, muss auch seine Würde schützen sowie Grenzen setzen. Um des lieben Friedens willen oder aus vermeintlicher Gutmütigkeit würden Kränkungen aber oft „geschluckt“ und verdrängt, beobachtet Friedrich Kopitar.
Als nächsten Schritt hin zur Vergebung empfiehlt er, sich die kränkende Situation zu vergegenwärtigen und nochmals wie einen Film geistig vor sich ablaufen zu lassen: Wer hat was gesagt? Wer hat sich wie verhalten? Oft bleibe im Gedächtnis zunächst nur die eigene Reaktion hängen, und das Nachdenken fördere die Objek­tivität. Ein wichtiger Teil dabei sei, den eigenen Schmerz und Gefühle zuzulassen. Zwei wichtige Gefühle: Wut und Scham. Wer seine Wut zulasse, so Kopitar, könne sie in Mut und Kraft verwandeln. Die Scham, ein Tabu­thema, betreffe das Innerste des Menschen und werde oft überspielt.

Mich selbst und den anderen besser verstehen

Das Nachdenken über die Situation sollte dazu führen, mich selbst und den anderen besser zu verstehen: Was sind meine Anteile an der Situation und warum hat der andere so gehandelt? Das bedeutet auch, aus der Rolle des Opfers auszusteigen und sich eigene Unzulänglichkeiten einzugestehen. Wer den anderen besser versteht, erfährt meist, dass die Kränkung nicht persönlich gegen sich gerichtet war, weil auch der andere aus seiner Lebensgeschichte heraus agiert und reagiert. Wer für den anderen zu beten beginnt, ist einen großen Schritt in Richtung Vergebung gegangen.

Im Nachhinein könne man aus einer Kränkung sogar lernen und einen Sinn darin finden, ist Kopitar überzeugt. Wer mit seinen Gefühlen und Bedürfnissen in Kontakt komme, der lerne sich selbst besser kennen und wisse, was das eigene Lebensglück ausmache. „Leute, die einen kränken, helfen einem, sich das eigene Leben anzuschauen.“ Wer eine Antwort auf die Frage „Wozu?“ gefunden hat, kann leichter vergeben.
Oft braucht es zunächst Distanz zum anderen, damit danach wieder Nähe entstehen kann. Wem es alleine nicht gelingt zu vergeben, der kann sich an Gott wenden, der alle Menschen gerecht richtet. Auch so muss man den „schweren Stein“ des Verletzt-Seins nicht alleine tragen. Man kann auch professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.
Wer eine Kränkung nachträgt, richtet seine Energie auf die Vergangenheit. Wer zur Vergebung findet, kann sich mit Freude und Energie der Gegenwart und dem Leben zuwenden.

„Gott ist groß im Verzeihen“

Der Ruf zur Umkehr und die Bereitschaft, diesem Ruf zu folgen, gehören in die Mitte der biblischen Botschaft. Schuld und Sünde werden in der Bibel nicht verharmlost oder gar verschwiegen. Mit jeder Verfehlung ist die von Gott behütete Schöpfung ebenso betroffen wie der Schöpfer selbst. Deshalb ist auch Vergebung kein isolierter Akt, sondern wirkt hinein in alle Lebenszusammenhänge.

Schon die ersten Bücher des Alten Testaments werden nicht müde, die Vergebungsbereitschaft Gottes zu verkünden. In der Geschichte Israels folgt auf die Sünde des Volkes Israel die Auslieferung an die Feinde. Gott, der Herr, erhört den Hilfeschrei seines Volkes und erweckt einen Retter, der im Namen des Herrn die Befreiung bewirkt (Richter 3,7-31). In der Notzeit des Exils sagt der Prophet Jesaja: „Gott ist groß im Verzeihen“ (Jes 55,7).
Auch die Psalmen sind durchdrungen von der Vergebungsbereitschaft Gottes: „Du, mein Herr, bist gut und bereit zu vergeben, reich an Liebe für alle, die zu dir rufen“ (Ps 86,5). Psalm 51 ist ein eindringliches Gebet Davids um Vergebung, nachdem ihn der Prophet Natan wegen seiner Verfehlung mit Batseba zur Rede gestellt hat.

Am Versöhnungstag legte Aaron seine Hände einem Ziegenbock auf, der, solcherart mit sämtlichen Sünden der Israeliten beladen, in die Wüste geführt wurde. Davon ausgehend sagt Paulus, dass Christus „für uns zur Sünde gemacht“ wurde und uns am Kreuz erlöst hat (2 Kor 5,21).

Versöhnung ist ein Leitwort für das Wirken Jesu. Er heilt nicht nur Kranke, sondern sagt auch die Vergebung der Sünden zu. Der Evangelist Lukas zeigt Gott immer wieder als den, der bereit ist zum Verzeihen. Das Gleichnis vom „verlorenen Sohn“ oder besser vom „barmherzigen Vater“ (Lk 15,11-32) ist ein Loblied auf die geduldige Vergebungsbereitschaft Gottes, für den es auf einen Sünder, der umkehrt, mehr ankommt als auf jene 99 Gerechten, die keine Umkehr nötig haben (Lk 15,7). Nach der Auferstehung Jesu erteilt Jesus den Aposteln die Vollmacht: „Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben; wem ihr die Vergebung verweigert, dem ist sie verweigert“ (Joh 20,23).

Dass sich der Mensch aber nicht auf ein Kalkül mit der Barmherzigkeit Gottes einlassen darf, zeigt Lukas mit einem anderen Beispiel, in dem er den reichen Verschwender dem armen Lazarus gegenüberstellt (Lk 16,19-31): Wer den Mitmenschen als Ebenbild Gottes mit Füßen tritt und bis zum letzten Atemzug seines Lebens keine Reue und Bereitschaft zur Umkehr zeigt, darf nicht darauf hoffen, dass Gott ihn quasi automatisch von seiner Schuld erlöst. Vergebung ist ein Geschenk Gottes – kein Anrecht. Das macht den Ernst der biblischen Lehre von der Erlösung aus.

Autor:

Sonja Planitzer aus Niederösterreich | Kirche bunt

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