SONNTAG. Der Tag zum Leben | Teil 12
Innehalten ist angesagt

Georges Seurat, Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte, Öl auf Leinwand, 1885. | Foto: WM
  • Georges Seurat, Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte, Öl auf Leinwand, 1885.
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„Was soll ich tun?“, fragt der Schriftsteller Rafik Schami in seiner autobiografisch gefärbten Erzählung „Sieben Doppelgänger“, „ich bin nicht mehr ich selbst.“ Vom Erfolg überwältigt ist der Dichter so oft für Autorenlesungen angefragt, dass ihm keine Luft zum Atmen bleibt. Kreuz und quer reist er durch Deutschland, um seine Zuhörer zu befriedigen, und ist am Ende der Gehetzte. „Du musst Dich vervielfältigen!“ sagt ihm ein Freund. „Warum suchst Du Dir nicht Doppelgänger, die die Lesungen für Dich übernehmen? Dann hast Du endlich Zeit für Dich!“ Doch welche Katastrophe sich mit den sieben Doppelgängern anbahnt, kann man schon ahnen ... Alles geht schief. Das fatale Ergebnis der trickreichen Steigerung schriftstellerischer Existenz lässt nicht lange auf sich warten: Ruhelosigkeit und Sorgen stellen sich ein statt innerer Ruhe. So ist die Beschleunigung auf die Spitze getrieben, bezahlt mit dem Verlust des Lebensglücks.

 


Zeitbeschleunigung
führt zum Stillstand

Wer heute im Umgang mit seiner Zeit aktuell sein will, beschleunigt am besten seine Gegenwart. Homo creator sui temporis: Der Mensch ist der Schöpfer seiner Zeit. Zeit, radikal auf das Hier und Heute ausgerichtet, ist einem grundsätzlich verfügbar. Zeitliche Beanspruchung ist zur Metapher des persönlichen Fortschritts geworden. Termin reiht sich an Termin. Ich muss kreativ sein, denn Terminplaner und Palmtop und nicht mehr die Natürlichkeit des Werdens und Vergehens bestimmen das Leben. Zeitgestaltung wird ausgeklügelt erlernt und buchhalterisch betrieben: Man muss ja seine Zeit bis zur letzten Minute ausfüllen. So lebe ich mein eigenes Leben. Doch Zeitmobilität ist zum Sprengsatz geworden. Wer sich so dem Diktat der Beschleunigung unterwirft, kann unversehens dem „rasenden Stillstand“ (Paul Virilio) verfallen. Mit der Verfügungsmacht über die eigene Zeit ist gleichzeitig die Angst gewachsen, die neu gewonnene Zeit wieder zu verlieren. Wer Zeitnot hat, hat wenig Raum für das detaillierte Aufmerken. Ruhelosigkeit macht sich in einem breit. Beschleunigung verhindert Beziehung. Termine drohen die Zeiten der Liebe und der Fürsorge zu verplanen. Die Seele bleibt zurück, weil sie ganz anders mit der Zeitlichkeit und Endlichkeit des Lebens umgeht, denn Lebens-Zeit hat einen Beginn und ein Ende, hat Höhepunkte und Phasen der Stagnation, ist dem Werden und dem Vergehen unterworfen. Wer seine Zeit zu sehr aufgefüllt hat, merkt vielleicht auf einmal, dass sie nicht mehr erfüllt ist. So wächst die Sehnsucht nach Entschleunigung: wieder einmal mehr dem eigenen Rhythmus zu folgen und die Gesetze des Lebens gelten zu lassen, der Eigenzeit wieder Raum zu geben, das Gespür für die eigene Zeitlichkeit bewusst zu leben. Wer der Sucht nach Schnelligkeit, Aktivität und Veränderung Tag für Tag unterworfen ist, spürt vielleicht ganz still die Sehnsucht nach Ruhe, Langsamkeit und Stabilität, nach einer Mitte im Leben. Innehalten ist angesagt.

 

Gott streckt sich nicht er­schöpft aus

Das heutige Zeitgefühl hat auch Auswirkungen auf die Gestaltung des Sonntags. Der klassische Sonntag ist auf der Strecke geblieben. Der Sonntag, nun letzter Tag der Woche, ist zum ultimativen Höhepunkt des Wochenendes geworden. Dieser muss gestaltet werden und etwas bringen. Während früher der Sonntagsrhythmus vorgegeben war, bestimmen wir ihn heute selbst. Was aktiv und geschäftig daherkommt, das zählt. Der Seele wird auf unerbittliche Weise keine Ruhe mehr gegeben.

Die biblische Tradition ist da anders. Gott streckt sich am letzten Tag der Schöpfung nicht erschöpft hin. Er ruht sich nicht aus, um Kraft für Neues zu gewinnen. Er genießt auch nicht die verbleibende freie Zeit. Seine Ruhe ist der Augenblick, in dem Zeit und Ewigkeit ineinander fallen, in der Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart aufscheinen. Ohne diese Ruhe ist die Schöpfung nicht vollendet. Als Gottes Bild sind wir eingeladen, an Gottes Ruhe teilzuhaben. In der Ruhe leben wir die Würde des Geschöpfes. Indem wir zur inneren Ruhe kommen, mag uns der Ausbruch aus der menschengemachten Zeit in die Heilszeit gelingen. Damit ist aber ein Kontrastprogramm gegen das Credo der selbstgemachten Beschleunigung angesagt, ein Kontrastprogramm, das anspruchsvoll und schwierig ist, aber auch heilend und identitätsstiftend wirken kann.

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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