Positionen - Elisabeth Wimmer
Das Leben bebt
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In der Gaststube beim Wirt neben unserer Dorfkirche habe die Deckenlampe gewackelt. Das habe ich als Kind 1976 aufgeschnappt. Erdbeben in Friaul hatten unzählige Häuser zerstört, fast 1000 Menschen getötet, Zehntausende wurden obdachlos. Ich spürte eine existenzielle Unsicherheit: Wenn der Boden selbst wackelt: Wo kann man stehen?
Heuer verbrachte ich Urlaubstage in dieser Region. Im Dom von Gemona stehen einige Säulen schief, Zeugen zugleich von Ur-Bedrohung und (erhoffter) Stabilität. Ausstellungen zeigen Zerstörung und Mühen des Wiederaufbaus, auch mit Hilfe aus Nachbarregionen.
Der Dom von Venzone macht mich sehr still. Der Innenraum vibriert wie von Musik, deren Töne man nicht hört. Der Dom wurde samt seinen Bruchstellen wieder aufgebaut, Alt und Neu kenntlich gemacht. Das Kaputte ist zu sehen. Die gebrochenen Steinfiguren der Kreuzigungsgruppe, riesige Wandflächen voll Fresko-Fragmenten. Eine an die Wand gemalte Figur kniet einsam in der Leere: Sie hat ihr Bild verloren, von dem sie einmal Teil gewesen ist.
Das verletzte Skelett dieser Kirche trägt den erneuerten, wunderschönen alten Raum. Und vermittelt eine tiefe Ehrlichkeit. Hier muss man nicht mit Worten sprechen. Über das Leben sagt dieser Raum alles.
Elisabeth Wimmer
redaktion@sonntagsblatt.at
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
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