Memoiren eines unbeugsamen Christen, Folge 8
Abbé Pierre

Bei den Pfadfindern gab man mir den Namen „Meditierender Biber“. Seltsam, dass junge Teenager, die um das Lagerfeuer hockten und vorgeschlagene Totemnamen guthießen oder verwarfen, genau diese beiden Bezeichnungen für mich wählten. Der Biber ist das Tier, das sich ein Haus baut, während ich ein Leben lang für menschenwürdiges Wohnen kämpfen sollte. Und Meditation war tatsächlich einer meiner Charakterzüge. Meditation und später Anbetung haben immer meine ganz praktische Handarbeit wie das Bauen von Unterkünften etc. begleitet.

Ein weiteres unvergessliches Ereignis hat sodann mein Leben erschüttert. Bei der Rückkehr von einer Pilgerfahrt nach Rom während meiner Gymnasialzeit besuchten wir Assisi. Dort stiegen wir an die zehn Kilometer in die Berge zu einem Kloster, das Carceri heißt. Franziskus hatte dort mit seinen ersten Gefährten oft Tage und Wochen in der Einsamkeit der Berge verbracht, um in den Grotten zu beten. Nach seinem Tod hat man dann ein herrliches, an den Berg gelehntes Kloster erbaut.

Nachdem uns ein Mönch das Leben des heiligen Franz erzählt hatte, trennte ich mich von meiner Schar und ging ganz allein die lange Allee hin und her. Damals erlebte ich intuitiv, wie man anbetend sowohl den Absoluten berührt, als auch eine totale Vereinigung mit der ganzen Natur und Menschheit erlebt. Zugleich entdeckte ich, inspiriert vom Leben des heiligen Franziskus, dass Anbetung ein Quell außerordentlicher Aktion sein kann – einer konkreten und realistischen Aktion, wie in den Dramen des damaligen Feudalzeitalters geschildert. Burgherr kämpfte gegen Burgherrn, und jeder mobilisierte seine Leibeigenen und Untertanen, um seinen Nachbarn zu bekriegen und um einander um einer Bagatelle willen abzuschlachten. In diesem historischen Kontext gründete Franziskus seinen Dritten Orden für Laien, an dessen Ursprung die Wehrpflichtverweigerung aus Gewissensgründen stand. Seine Mitglieder legten das Gelübde ab, ihren Herren die Waffengefolgschaft zu verweigern. Das war einer der Gründe für die rasche Ausbreitung des Dritten Ordens, der sich dem Pazifismus verschworen hatte. Es war ihr einziges Mittel, um sich von ihren skrupellosen Herren zu befreien.

Nach unserer Heimkehr von Assisi hatte ich – erneut von meiner Krankheit gepackt – das Glück, die umfassende historische Dokumentation der Franziskusbewegung zu entdecken. Deren Lektüre, bereichert durch mein eigenes Assisi-Erlebnis, verhalf mir zur Entscheidung meines Lebens. Persönlich besuchte ich die beiden französischen Hauptlinien der Franziskanischen Bewegung, die Kapuziner und Franziskaner. Letztere lebten zerstreut in Mietwohnungen in kleinen Gemeinschaften, während die Kapuziner einen sehr traditionellen monas­tischen Lebensstil pflegten und sehr viel härter und asketischer lebten. Sie schliefen in ihre Kutte gekleidet barfuß auf einem Brett, wurden um Mitternacht zum Chorgebet geweckt, verbrachten eine Stunde mit Psalmengesang und eine weitere im Finstern mit Anbetung. Ich erklärte meinen Eltern, dass ich im kommen- den Jahr nach Beendigung meiner Gymnasialzeit ins Noviziat der Kapuziner eintreten wollte. Sie empfanden meinen Entschluss als eine Prüfung, doch weil sie tiefgläubige Katholiken waren, empfanden sie doch einigen Stolz, einen Priester zum Sohn haben zu dürfen, wie sie mir gestanden. Trotzdem hätten sie mich lieber als Dominikaner oder Jesuiten gesehen. Das sind zwei Orden, die ihre Mitglieder je nach Begabung zu Gelehrten oder Spezialisten ausbilden, während die Kapuziner als ein volkstümlicher Orden gelten, der mehr Zeit für die Anbetung als für das Studium verwendet. Mit neunzehn Jahren begann ich also im Jahr 1931 das Noviziat.

Ich hatte eine gute Freundschaft mit Tho Morel, einem Schulkollegen aus dem Gymnasium, gepflegt, der später einer der Helden der nationalen Widerstandsbewegung der Résis­tance wurde. Als er hörte, dass ich Kapuziner werde, wollte er meiner Einkleidung beiwohnen. Doch verspätete er sich und fand unsere Kapelle leer. Enttäuscht bat er den Novizen­meis­ter, mich sehen zu dürfen. Wir trafen uns im kleinen Sprechzimmer, wo ich Zeuge einer außergewöhnlichen Szene wurde. Mein Freund, der später Kämpfer der heroischen Widerstandsbrigade Maquis des Glières wurde, dann einem gemeinen Hinterhalt zum Opfer fiel und zur Ehre Frankreichs sein Leben gab, explodierte vor Zorn.„Aber Henri (mein Taufname) – das bist doch nicht du! Die Haare zur Tonsur geschoren wie ein Sträfling, barfuß – da wirst du wieder krank, du mit deiner anfälligen Gesundheit. Und in was für einen Sack hat man dich verpackt, um dich zu vermummen! Zieh dich schleunigst um und komm mit mir!“

Ich ließ ihn seinem Ärger Luft machen, und wir blieben eine volle Stunde beisammen. Schritt für Schritt erklärte ich ihm meine Motivation und die Entstehungsgeschichte meiner Berufung. Er verstand nichts davon, doch gab er sich schließlich geschlagen und nahm friedvoll Abschied. Er nahm ein Geheimnis mit sich, dem sein Verstehen nicht gewachsen war.

Nach einem Noviziatsjahr und dann als Student der Philosophie und Theologie verbrachte ich insgesamt sechseinhalb Jahre im gleichen Stil: barfuß auf einem Brett schlafend, allnächtlich um Mitternacht für eine Stunde Psalmengesang und eine weitere für Anbetung geweckt.

Heute darf ich sagen und mit Sicherheit bekennen, dass alles Positive in meinem Leben die Frucht dieser Klosterjahre war. Ich trage die Gewissheit in mir, dass ohne die Vorsehung, die mich in diese Jahre der Anbetung geführt hat, nichts von dem zustande gekommen wäre, was ich in der Folge leisten durfte. Fortsetzung folgt

Nach meiner Priesterweihe durfte ich mehrere Monate am In- stitut Catholique in Lyon einige Kurse besuchen. Einer meiner da- maligen Lehrer war Henri de Lubac. Er war es, der auch bei meiner Primiz assistierte, und er blieb bis zu seinem Tod, kurz nachdem er 1983 zum Kardinal erhoben worden war, mein Seelenführer.
Im Jahr nach meiner Weihe wurde ich wieder von meiner Krank- heit heimgesucht, und die Ärzte verschrieben mir Gebirgsaufenthalt.

De Lubac und andere rieten mir, Rom um Dispens vom Orden und einen der Bischöfe der Gebirgsbistümer um Eingliederung in dessen Diözesanklerus zu bitten. Ich erhielt Dispens, und der Bischof von Grenoble nahm mich in sein Presbyterium auf. Das ist nun sechzig Jahre her, und er ist seither mein kirchlicher Vorgesetzter. Ich wurde dann natürlich eine Wildgans und habe seither nur sehr wenig Zeit in meinem Bistum verbracht …
Als Krieg und Niederlage kamen, lag ich mit Brustfellentzündung im Krankenhaus, sodass ich am zuweilen heroischen Zusammen- bruch 1939/40 nicht teilnehmen konnte.

Als ich wieder einigermaßen hergestellt war, ernannte mich der Bischof zum Domkaplan in Grenoble. Ein weiteres Blatt in meiner Lebensgeschichte wurde mit meinem Eintritt in die Résistance, den nationalen Widerstandskampf, aufgeschlagen. Das geschah tatsäch- lich nicht aus einem politischen Motiv heraus, sondern wegen der rassistischen Verfolgung der Juden, von der ich zu Beginn dieses Bu- ches gesprochen habe. Als die Befreiung kam, wurde ich zum Abge- ordneten gewählt, und damals wurde, wie oben geschildert, meine Emmaus-Bewegung geboren.

So hat sich von Stufe zu Stufe mein naiver Kinderglaube in einen persönlich verantworteten gewandelt, der zum tragenden Motiv der wichtigsten Entscheidungen meines Lebens wurde.

Autor:

Kirche bunt Redaktion aus Niederösterreich | Kirche bunt

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