Memoiren eines unbeugsamen Christen, Folge 6
Abbé Pierre

Als ich damals jene Tafel an den Garteneingang hängte, konnte ich ja keine Vorstellung haben von dem, was daraus nach kurzer Zeit werden sollte. Denn anstelle der Jugend waren alsbald alle Betten, eins nach dem andern, von Leuten belegt, die von schlimmsten Enttäuschungen verbittert waren, von Leuten aus zerbrochenen Ehen und Familien, Strafentlassenen, im Stich gelassenen Müttern mit ihren Kindern, verbummelten Alkoholikern …

Was für ein herrliches Wunder, in einem Haus Zuflucht zu finden, das auf der Emmausgeschichte errichtet ist! Das war es tatsächlich, was mich bis in mein tiefstes Herz berührte, eines der bedeutsamen Zeichen, das einem Gottes Vorsehung von Zeit zu Zeit schenkt. Ich hätte mir ja nie träumen lassen, dass mein Haus in Kürze von so vielen Lebensenttäuschten, also Desillusionierten bewohnt würde, die alle nach jener Wirklichkeit hungerten, die allein Hoffnung zu schenken vermag.

Vom ererbten zum persönlich
verantworteten Glauben

Eines Tages fand ich mich völlig unerwartet zusammen mit dem Autor André Frossard im selben TV-Programm. Er war durch sein Buch mit dem Titel Gott existiert, ich bin ihm begegnet publik geworden, das er als Zeugnis seines Gottfindens verfasste. Auch als Verfasser kurzer polemischer Atta­cken, die er im Figaro (französische Tageszeitung, Anm. der Redaktion) als Kurzartikel zu veröffentlichen pfleg­te, erlangte er Bekanntheit.
Im Verlauf unserer Sendung erklärte er: „Ich hatte kürzlich ein seltsames Erlebnis. Ich gehe in eine Kirche, und der Prediger spricht gerade von ‚Gott dem Unwissbaren‘. Ich flüchtete aus dem Raum, weil ich meinte, mich in die falsche Kirche verirrt zu haben.“

Da unterbrach ich ihn erregt und sagte: „Aber bitte, Monsieur, soll man nun vielleicht das Credo ändern und statt ‚ich glaube‘ sagen ‚ich weiß‘?“ Er lächelte bloß, und es kam zu keiner Polemik zwischen uns beiden, denn im Grunde hatten wir beide recht.

Er hatte recht mit seiner Bemerkung, dass es eine bestimmte Art von Gotteskenntnis gibt, doch hatte ich ebenso recht, daran zu erinnern, dass solche Gotteskenntnis keineswegs eine Behauptung „ich weiß“ rechtfertigen kann. Glaube ist weder das Resultat eines logisch zwingenden Arguments noch das Ergebnis einer mathematischen Gleichung.

In Wirklichkeit (wie wir später noch sehen werden) gehört er in das Gebiet der Liebe. Wobei Liebe natürlich ein Reflektieren nicht ausschließt. Die Vernunft erwägt die Qualitäten, die Mängel, die Vorteile und Nachteile, falls man sein Leben dieser oder jener Person anzuvertrauen gedenkt. Doch das Resultat solcher Überlegung ist nicht ein rigoroses, automatisches, absolut gültiges wie das einer mathematischen Rechnung. Es kommt ein Moment, an dem man sich zu einem Sprung entschließen muss, was immer die Überlegungen gewesen sein mögen – und dies ist der Akt der Liebe. Wenn ich einen Verliebten frage „Warum liebst du?“, wird er mir antworten: „Lass mich in Ruh, ich weiß es selber nicht und habe keine Erklärung dafür – ich liebe, weil ich liebe! Punkt.“
Jene Unterhaltung mit André Frossard hat mich dazu veranlasst, mir selber über meine Lebenserfahrung klar zu werden. Ich bin sozusagen als Gläubiger geboren worden dank der zufälligen Tatsache, dass ich in einem gläubigen Elternhaus aufgewachsen bin, in ihm meine Erziehung genoss, die von den Eltern gewählten Schulen besucht und dort meine entsprechenden Studien absolviert habe.

Doch welches waren die verschiedenen Etappen, durch die sich der mir so angeborene Glaube zu meinem persönlich verantworteten entwickelte?
Es begann mit jenem rührenden Eifer von Jesusliebe im Herzen eines kleinen Jungen. Und nun hat er zum Glauben eines Erwachsenen geführt, der mir die Fähigkeit schenkt, für all das Verantwortung auf mich zu nehmen, das heute mein ganzes Sein durchwirkt.

Als Kind hat man das Privileg, sich jener inneren Sicherheit zu erfreuen, die ein in die Wiege gelegter Glaube vermittelt. Man fragt nicht nach Beweisen. Als kleiner Knirps bemühte ich mich, „dem Jesuskind Freude zu bereiten“. Und das speziell an Weihnachten, da er in der Krippe lag. Wir waren acht Geschwis­ter, und ein jedes hatte sein Schaf mit einem speziellen Farbband an der Krippe. Je nachdem, ob man sich tagsüber artig benommen hatte oder nicht, durfte man sein Schäflein beim Abendgebet näher oder weiter weg von der Krippe platzieren. Recht gut meine ich mich noch daran erinnern zu können, dass ich nach einer meiner Dummheiten mein Schaf in der anderen Zimmerecke unter einem Tisch suchen musste.

Ungefähr so verliefen die Dinge, bis ich mit vierzehn Jahren eine tiefe Krise zu bewältigen hatte. Doch noch zuvor hatte ich zwei Etappen der Reifung durchlebt, die eine nicht unbeträchtliche Rolle spielten. Ich habe zwar oft davon erzählt, doch sie hier zu übergehen wäre absurd.
Fortsetzung folgt

Mit sieben oder acht Jahren aß ich einmal heimlich Konfitüre. Als der Mangel entdeckt wurde, verdächtigte man einen meiner Brüder, und ich hütete mich, mich als der wirkliche Täter zu stellen. Als man aber schließlich doch auf mich kam, wurde mir verboten, am nächsten Familienfest draußen am Fluss teilzunehmen. Dieses regelmäßige Treffen mit all unseren sehr wohlhabenden Cousins war immer eine äußerst tolle Sache, denn sie hatten stets die neuesten noch nie gesehenen Spielzeuge. Als am Abend meine Geschwister vom Fest heimkamen, rannte einer meiner Brüder auf mich los und schilderte mit höchster Begeisterung all die tollen Sachen. Doch ich kehrte ihm nur meinen Rücken zu und sagte verächtlich: „Meinst du, es macht mir das Geringste aus, dass ich nicht dabei war?“ Ich höre mich noch heute, als ob es erst heute früh geschehen wäre.
Gleich darauf schnappt mich mein Vater beim Ärmel, schimpft nicht mit mir, gibt mir keine Strafe, sondern schiebt mich nur traurig und betrübt in sein Zimmer und sagt bloß: „Ich habe gehört, was du da sagtest. Das ist ja ganz schrecklich. Bist du nur dir selber wichtig? Kannst du die Freude der andern nicht teilen, um selber wieder froh zu werden?“

Da brach plötzlich eine ganze Welt in mir zusammen, um einer neuen und besseren Platz zu machen. Es kam mir vor, als ob ich in einem finsteren Verlies gesteckt und ein Sturm Fensterläden und Fenster weggeblasen hätte, um mir einen neuen Lebenshorizont zu zeigen. Die Trauer und der Schmerz meines lieben Vaters öffneten mir die Sicht auf eine neue Wirklichkeit, die in Liebe und Güte und miteinander Teilen besteht. Bist du glücklich, so bin ich es auch, doch wenn es dich schmerzt, tut es auch mir weh.“

Diese Anekdote hat mich stark geformt. Ebenso eine zweite ein paar Jahre später. Eines Sonntagmorgens lud unser Papa einen meiner Brüder und mich ein, ihn zu begleiten. Wir hatten ihn jeden Sonntagmorgen verschwinden gesehen, doch nie gewusst, wohin er ging. Wir kamen mit ihm in einer der schmutzigen und verwahr- losten Lyoner Vorstädte in ein Lokal, in dem sich an die vierzig ver- lauste Bettler, Landstreicher und Tagediebe einfanden, sowie fünf oder sechs bessere Herren, alles Freunde unseres Vaters und gutbür- gerlich wie er selber, Geschäftsleute und ein pensionierter General. Niemand von ihren Familien hatte eine Ahnung von dem, was diese Herren allsonntäglich betrieben. Sie hatten eine Vereinigung gegrün- det, die sie verpflichtete, sich dieser verkrachten Existenzen anzu- nehmen. Sie schnitten ihnen die Haare, rasierten sie und besorgten die Wäsche, die sie am nächsten Sonntag fein säuberlich gewaschen und gebügelt mitbrachten, natürlich mit einer finanziellen Zuwen- dung. Den Arbeitslosen unter ihnen suchten sie wenn möglich aus der Klemme zu helfen, doch die meisten hatten keinerlei Verlangen, ihr Bummlerleben und ihre Gönner einer bezahlten Arbeit halber zu verlieren. Mein Vater musste sich von einem seiner groben Kunden, den er vielleicht beim Haareschneiden versehentlich gezwickt hatte, anschnauzen lassen. Da sagte er uns auf dem Heimweg: „Da seht ihr, wie schwierig es ist, sich zum Diener dieser Leute zu machen.“ Auch diese Begebenheit verfolgt mich seither mein ganzes Leben lang.

Es ist klar, dass solche Anekdoten Einfluss hatten auf meine Berufung, die ja wesentlich im Dienst an meinen ärmsten Mitmenschen bestehen sollte.Dann kam die Pubertät, und eine simple Überlegung drängte sich mir auf: „Du engagierst dich für eine bestimmte Zukunft bloß, weil du in einer wohlhabenden katholischen Familie aufgewachsen bist. Wärest du in einer areligiösen oder ungläubigen, in einer islamischen oder jüdischen oder indischen Familie aufgewachsen, würdest du dich eben für ein anderes Leben entscheiden. Solange du also deinen Christenglauben nicht persönlich erforscht hast – was gibt dir denn die Gewissheit, dass er der richtige ist?“

Von diesem Augenblick an verschlang ich an Lektüre alles, was mir nur in die Hände kam. Ich suchte nach Wahrheit, debattierte mit dem einen oder anderen, doch ganz diskret, ohne die innere Qual zu zeigen, unter der ich litt. Eine Zeitlang ließ ich mich von den mehr oder weniger zum Pantheismus neigenden deutschen Dichtern und Denkern verführen.

Unbeabsichtigt war das der Auslöser für meine persönliche Glau- bensüberzeugung. Da las ich zufällig – nicht in der Bibel, sondern sonstwo – die Geschichte von Mose und dem brennenden Dorn- busch (Ex 3). Mose, dieser einfache, aus Ägypten geflüchtete Hirte, fragt eine mysteriöse Stimme: „Und was antworte ich dann, wenn man mich fragt, wer mich denn zum Befreier meines Volkes berufen habe?“ Die Stimme sagt – und das war die erste große Erschütte- rung meines ganzen Wesens: „Geh und sag ihnen, DER ICH BIN hat mich beauftragt.“
Dieses ICH BIN packte mich in meiner damaligen adoleszenten Verstörung und stand da wie ein Felsblock. Das war ein so einfacher und mächtiger Begriff, dass er mich geradezu blendete. Von jenem Augenblick an überwältigte mich die Vorstellung der Gottheit als etwas Präzises, Reines, alles Begründendes. All meine schwimmen- den Gedankenfluten waren mit einem Streich weggewischt. Von da an trug ich in mir die Gewissheit, dass das Leben, in das ich mich geworfen fand, nicht eine ziellose Wegstrecke sein konnte, sondern schließlich zu einer Begegnung führen musste.

Ich forschte indessen weiter nach. Mehrmals hatte ich Perioden von Krankheit zu durchstehen, während derer ich sogar meine Stu- dien unterbrechen musste.
Gerade bevor ich die letzte Gymnasialklasse erreichte, wurde ich Opfer der Blutarmut. Sechs Monate am Meer und drei Monate in den Bergen wurden mir als Kur verschrieben. Die Krankheit kostete mich ein volles Studienjahr, doch sie trug sehr stark zu meiner Reifung bei.

Autor:

Kirche bunt Redaktion aus Niederösterreich | Kirche bunt

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