Die italienische Stadt Matera und die bulgarische Stadt Plowdiw sind die Kulturhauptstädte 2019
EU-Kulturhauptstädte im Schatten der Armut

Auf den ersten Eindruck wirkt Plowdiw wie viele andere sozialistische Einheitsstädte: Wohnsilos, Paradestraßen und Monumentalplastik prägen das Stadtbild. Auf den zweiten Blick entdeckt man die lange und reiche Geschichte der Stadt, die zu den ältesten Ansiedlungen der Erde zählt: den his­torischen Stadtkern mit dem 180 Meter langen römischen Stadion, das sich unter der Fußgängerzone verbirgt und in vielen Geschäften durch Glasböden hindurch sichtbar ist; weiters das antike Theater, die thrakischen Siedlungsreste oder auch die orthodoxen Kirchengebäude Sveti-Konstantin-i-Elena und Sveta-Marina mit Wandmalereien und Goldornamenten, die einen einmaligen Glockenturm und eine schöne holzgeschnitzte Altarwand aufweist.

Besonders herausgeputzt wurde für das heurige Jahr die „Tjutjunev-Grad“, die sogenannte „Tabakstadt“ südlich des Zentrums. Dort blühte in den heute leerstehenden herrschaftlichen Häusern, Fabrik- und Lagerhallen einst der Tabakhandel. Heuer werden von dort aus alle Aktivitäten des Kulturhauptstadtjahres geplant und organisiert. Danach soll die Tabakstadt von Künstler-, Theater-, Musik- oder Tanzgruppen genutzt werden.

Doch neben allen Sehenswürdigkeiten und Schönheiten in Plowdiw ist noch ein Thema omnipräsent: Armut. Bulgarien gilt als ärmstes Land der Europäischen Union und am meisten leidet die Gruppe der Roma unter der wirtschaftlichen Situation des Landes. Mit 55.000 Einwohnern beherbergt Plowdiw eine der größten Roma-Siedlungen auf dem Balkan. Arbeitslosigkeit, segregierte Schulen und pre­käre Wohnverhältnisse prägen das Stadtviertel Stolipinowo. Die Situation der ethnischen Minderheiten in Plowdiw, vor allem jener der Roma, wird im Rahmen der Veranstaltungen im heurigen Jahr zentrales Thema sein, versprachen die Verantwortlichen im Vorfeld.

Soziale Themen werden im heurigen Jahr auch in der anderen europäischen Kulturhauptstadt angesprochen, denn auch im süditalienischen Matera, einst als „Schande Italiens“ bezeichnet, ist Armut bis heute präsent. Und wie Plowdiw kann auch Matera auf eine lange und reiche Vergangenheit zurückblicken. In der Steinzeit besiedelt, spiegelt sich in und um die Stadt die wechselhafte Geschichte der Region. Hier überschneiden sich die Einfluss­bereiche von Abendland und Orient: Normannen, Sarazenen und Byzantiner hinterließen ihre Spuren.
So abgeschlagen Matera von Welt und Geschichte wirkt, so unermesslich sind seine religiösen Zeugnisse: Seit dem Ausgang der Antike ließen sich an den Hängen der Gravina und auf den karstigen Höhen der Murgia Mönche nieder, gründeten Einsiedeleien und schlugen Kirchen in den Fels. 155 sind wissenschaftlich dokumentiert – eindrücklichstes Beispiel die Cripta del Peccato Originale mit einem Freskenzyklus, der gern mit den Werken Giottos (1267/76-1337) verglichen wird, aber 500 Jahre älter ist.

„Licht der Welt“

Das Erzbistum Matera will dieses Erbe im Blick auf das Kulturhauptstadtjahr 2019 fruchtbar machen. „Terre di luce“ (Länder des Lichts) heißt das Projekt, mit dem die Kirche in der Basilicata Gotteshäuser und historische Wallfahrtsorte erschließen will. Auch Veranstaltungen zu spirituellen und sozialen Themen, Konzerte und Lesungen und ein Fernpilgerweg gehören zum Programm. „Die Kirche war über Jahrhunderte Motor der Kultur“, sagt Don Filippo Lombardi, Medienverantwortlicher des Erzbistums Matera. Das Jahr 2019, hofft er, liefert neuen Schwung.
Doch nicht nur Materas Gesellschaft, auch die Kirche selbst hat aus Sicht von Don Filippo Auftrieb nötig. Zwar ist Glaube „noch immer tief verwurzelt“, betont er; die Volksfrömmigkeit kreist um die Stadtpatronin Madonna della Bruna, deren Gnadenbild in der Bischofskirche mit viel Inbrunst verehrt wird. Aber es machten sich „Formen des Individualismus“ breit, sagt Don Filippo. Wie überall geht auch in Matera der Got­tesdienstbesuch zurück.
Matera mit seinen Höhlenwohnungen, den Sassi, faszinierte vor allem auch Filmemacher. Materas Altstadt diente mit seinem einzigartigen En­semble archaischer Wohnhöhlen immer wieder als Kulisse für Filme wie dem „Evangelium nach Matthäus“ von Pier Paolo Pasolini (1964), „Die Passion Christi“ von Mel Gibson (1985) oder zuletzt „Magdalena“ (2018).

Armut früher und heute

Dabei erlangte Matera Mitte des 20. Jahrhunderts wegen der katastrophalen hygienischen Zustände seiner Höhlenwohnungen bittere Bekanntheit und wurde gar als „Schande Italiens“ bezeichnet. 1952 wurden die archaischen Behausungen zwangsgeräumt. Ältere Einwohner erinnern sich mit Bitterkeit und Schrecken an die katastrophalen Lebensbedingungen. So erzählt der 88-jährige Antonio D’Ercole von beengten Wohnverhältnissen mit seinen sechs Geschwistern in einer solchen Höhlenwohnung ohne Sanitäranlagen.
Heute gibt es neue Formen von Armut, weiß Caritasdirektorin Anna Maria Cammissa: Alleinerziehende, die die Miete oder den Strom nicht zahlen können, oder Familien, die auf kirchliche Unterstützung mit Sachmitteln angewiesen sind. Auch diese Seite soll im heurigen Jahr zur Rede kommen. Vor allem aber erwartet sich Matera – genauso wie Plowdiw – einen neuen Impuls und Aufschwung für ihre Stadt.

Autor:

Sonja Planitzer aus Niederösterreich | Kirche bunt

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