Brief zum Muttertag an mich selbst

Die Leserin nimmt Bezug auf den Artikel "In inniger Liebe ein Dankeschön"

Liebes Redaktionsteam,

wenn ich den glänzenden und einfallsreichen, im Sonntag veröffentlichten, persönlichen Überraschungsbrief von Niki Haselsteiner an seine liebe Steffi lese, steigt ein tiefer Schmerz in mir auf. Ich neide Familie Haselsteiner ihr Glück nicht. Ganz im Gegenteil.

Dennoch möchte ich als Zeitzeugin der heutigen medialen Präsentationsgesellschaft daran erinnern, dass die Heilige Familie in Nazareth ein stilles Dasein führte. Wir wissen nichts über ihre traute Dreisamkeit außer dass Jesus zu Beginn der Pubertät einmal ausbüchste. Ein Skandal damals. Und ein Skandal in heutigen scheinbar heilen christlichen Familien. Über so etwas spricht man lieber nicht. Und man liest es auch nicht unbedingt im Sonntag. Zumindest nicht am Muttertag, wo wir die heile bürgerliche Familie des 19. Jahrhunderts zelebrieren. Und wir sind doch alle bemüht, so weit wir können, diesem relativ jungen und in der Bibel nicht so stark repräsentierten Ideal zu entsprechen. Zu diesem Zwecke zeigen wir uns auch gerne öffentlich.

Fein, dass es intakte Familien gibt. Bravo, ihr habt es geschafft! Aber es gibt auch die anderen, die so wie ich Schmerzen empfinden, wenn man ihnen das ersehnte Glück aller Menschen so öffentlich auf die Nase knallt.
Was denken Sie, Herr Haselsteiner, wenn ich als alleinerziehende Mutter von vier Kindern ihren reizenden öffentlichen Brief an Ihre Frau lese? Damit Sie sich ein bisschen in meine Lage hineinversetzen können, möchte ich nun hier einen Brief zum Muttertag an mich selbst publizieren:

Liebe Anni,
du bist einfach großartig! Du glaubst es mir wahrscheinlich nicht so ganz, aber es ist die Wahrheit, wenn ich dir sage, dass dir kaum jemand das Wasser reichen kann. Als du in tiefster Depression über die missglückte Beziehung zum Vater deiner Kinder allein warst, weil niemand ernsthaft in der Lage war, dir zu helfen, da dachtest du: "Ich schade meinen Kindern nur, es wäre besser, wenn es mich nicht mehr gäbe." Gottlob, dass deine Eltern, die es auch alles andere als leicht hatten, dir doch die absolute Verneinung irgendeines Versuchs der Selbsttötung glaubhaft und bedingungslos überzeugend vermitteln konnten. Hier bot dir die Strenge ihres Denkens doch den nötigen Rettungsanker.

Liebe Anni,
ich bin so froh, dass du deinen Weg durch Krankheit und Leid so mutig gegangen bist. Allein und doch nicht allein. Wahre Hilfe bekamst du vor allem von verständigen Leuten außerhalb der Kirche. Innerhalb ihrer Mauern wurdest du leider unbeabsichtigt erniedrigt. Weniger von Priestern als von frommen Laien. Es war ein weiter Weg, aber jetzt ernstest du die Früchte. Deine vier Kinder sind so starke und reife Persönlichkeiten. Sie sind resilient, klug, kreativ und unangepasst. Das haben sie von dir gelernt, liebe Anni! Wie, fragst du? Durch dein Vorbild. Du hast dich durch viele Leidensjahre hindurch gelöst von allen Perfektionsvorstellungen. Du gehst nun ganz mutig und gegen alle Widerstände der Konvention deinen eigenen Weg. Und du lehrst deine Kinder, ihren eigenen Weg zu gehen und ihre Fähigkeiten in Freude und Dankbarkeit zu entfalten. Wie machst du das? Du bist für sie da und lässt dich von ihnen in Frage stellen. Euer Haushalt und die alltäglichen Dinge sind so nebensächlich geworden. Ihr lebt im g'sunden Bio-Dreck, so weit das in der vergifteten Welt noch möglich ist und die Tischregeln darf jedesmal derjenige erfinden, der das Essen zubereitet hat. Und da kann es mitunter laut und kreativ werden. Was früher so wichtig war und wofür du, Anni, früher als Mama immer öffentlich gelobt worden bist, das ist auf einmal allen einfach WURSCHT! Wir stören ja niemanden. Und ein bisschen stören darf man die anderen, damit sie auch einmal nachdenken dürfen...

Ja, liebe Anni, in deiner Familie stehen die einzelnen, unterschiedlichen Persönlichkeiten im Vordergrund. Das Sein ist das Wichtigste und alles Tun ergibt sich daraus. Es fließt von selbst. Je mehr du dich selbst und deine Kinder einfach sein lässt, desto mehr erwacht die Schaffenskraft in euch. Jeden Tag nimmt eure Kreativität zu (Musik, Musik, Musik, Improvisation, Komposition, Malerei, Theater, Schreiben, Tanz, Gestaltung, ...). Eure Präsenz wird täglich mehr zur kritischen Rückfrage an unsere Gesellschaft und ihre Normen.

Schön, dass es euch gibt! Ihr seid wunderbar! Und vergesst nicht, alle anderen auch! Und am meisten diejenigen, über die nicht in der Zeitung geschrieben wird. In katholischen Kreisen fallen mir zuerst die Alleinerziehenden ein, die sich beschämt verstecken müssen. Und es gibt noch viele "Rand"-Gruppen mehr!
Seid alle gesegnet und dankt eurer gemeinsamen Mutter im Himmel am Muttertag!
Deine Dich liebende
Anni

Autor:

Sophie Lauringer aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG

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