Theologin Rotraud Perner:
Anleitung zum seelischen Wachstum

Rotraud A. Perner: „Das Gebet ist der Moment, in dem ich bereit bin, Lenkung anzunehmen, auf Gott zu vertrauen und mich entkrampfe.“
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Die Juristin, Psychoanalytikerin und evangelische Theologin Rotraud Perner spricht im Sommergespräch mit dem SONNTAG über die Hoffnung, die jeder neu finden könne.

AUDIO: aus dem Sommergespräch mit Michaela Necker auf Radio klassik Stephansdom.

„Hoffen heißt, über den eigenen Tellerrand schauen“, sagt Perner. Sie ermutigt dazu, die eigene Schöpfungskraft nicht versickern zu lassen.

Rotraud A. Perner  
Rotraud A. Perner

Alles ist im Fluß, sagt die Psychoanalytikerin Rotraud Perner. Steckt man in einer Phase der Hoffnungslosigkeit, dann wird diese Phase auch wieder enden. Hilfreich in solchen Lebenssituationen sind gute Freunde. Doch die größten Möglichkeiten stecken in einem selbst. Es gehe darum, einen Schritt weiter zu gehen und sich aus der Entkrampfung zu lösen.

  • Frau Perner, in Ihren zahlreichen Büchern spielt das große Thema „Hoffnung“ immer wieder eine Rolle. Zuletzt haben Sie ein Buch mit dem Titel „Aufrichten! Anleitung zum seelischen Wachstum“ geschrieben. Dürfen wir hoffen?


Rotraud Perner
: Hoffnung öffnet den Blick auf die Zukunft. Es gibt eine ängstliche und freudige Hoffnung und sie ergibt sich aus dem Zeitlauf. Sobald ein Kind erkennt, dass Zeit ein Kontinuum ist und sich Dinge wiederholen, begreift es das Hoffen.

Heute leben viele Menschen in einem rasanten Tempo und es gibt wenig Zeit zum Nachfühlen. So verändert sich das Gefühl für die Hoffnung. Daraus wird dann so etwas wie eine Forderung oder ein Anspruch. Die Gefahr der Verkrampfung ist eine große, wenn man unter Zeitdruck lebt. Hoffnung aber macht vieles sanfter und erträglicher, wenn man weiß, dass man sich selbst helfen kann.

Die eigenen Gefühle kann man selbst steuern. So entscheide ich, ich möchte meine Hoffnung bewahren. Oder jetzt lasse ich meine Hoffnung fahren und arbeite auf ein neues Ziel hin.

  • Durch das Verkrampfen kommt es zum Verlust der Hoffnung. Doch wie kann man sich denn selbst entkrampfen?

Körper, Seele und Geist sind eine Einheit. Rein körperlich bedeutet es, die Muskeln zu entspannen. Verkrampfung hat ja etwas mit Festhalten zu tun. Wenn kleine Kinder etwas krampfhaft festhalten, dann können sie das nicht so leicht loslassen. Sie haben noch nicht die Routine, zuzugreifen und loszulassen.

Als Erwachsener kann ich zum Beispiel über meine Verkrampfung reden, Tagebuch schreiben, eine Geschichte darüber schreiben. Damit drücke ich etwas aus und entkrampfe mich. Wichtig ist, dass man schon sehr früh den Kindern lernt, dass man durch das Aussprechen Dinge loslassen kann. So kann ich Mitgeschlepptes verdauen und abgeben. Das verlangt der seelische Stoffwechsel.

  • Wenn sich der Körper verkrampft und jemand körperliche Schmerzen hat, wie entkrampft man sich dann?

Solange ich Angst habe, verkrampfe ich mich. Wenn etwas weh tut, versuche ich mein Selbst klein zu machen. Ich ziehe die Schultern nach vorne und krümme mich zusammen. Die Gegenbewegung ist das Aufmachen. Damit entkrampfe ich mein Herz, auch ein Muskel. Das geht über den Atem.

Ich kann den Schmerz wegatmen oder besser, zu den schmerzhaften Stellen meinen Atem hinschicken. Denn Druck im Herzbereich kann ich durch tiefes Atmen im ganzen Körper verteilen. Wenn Tränen mitkommen, ist das gut. Sie entgiften. Oder wenn ich zittere, bewältige ich die Folgen von Traumatisierungen.

Da gibt es vieles, was wir im Westen nicht mehr beherrschen. Es gibt in vielen Kulturen Heilzeremonien, wo man Personen ins Beben oder Zittern bringt, damit sie Traumata loslassen können. Bei uns wird das Zittern oft als Schwäche gesehen. Zittern ist eine Reaktion, ein Hinweis auf ein körpereigenes Potential.

  • In der Covid 19-Krise und beim Lockdown haben viele den Boden der Hoffnung unter sich verloren. Viele blicken nun hoffnungsvoll in den Herbst. Wie kann die Gemeinschaft all jene auffangen, die in die Hoffnungslosigkeit geschlittert sind?

Im Kontinuum der Zeit gibt es Orte der Hoffnungslosigkeit, wo man sich nicht vorstellen kann, dass sich etwas ändert. Aber es ändert sich ja wieder. Deshalb ist es wichtig zu erkennen, dass es sich um eine Phase handelt. Es ist sehr hilfreich, wenn ein guter Freund keine guten Ratschläge austeilt, sondern einfach Verständnis zeigt.

Wenn das Außen nicht zu ändern ist, gibt es noch Möglichkeiten in einem selbst. Und eine Gemeinschaft kann immer auffangen. Wir sind alle miteinander verbunden und es wird immer irgendwen geben, der das hat, was man braucht.

Und so ist es auch mit dem Gebet. Das ist der Moment, in dem ich bereit bin, Lenkung anzunehmen und mich entkrampfe. Das ist Vertrauen. Ich muss überlegen, was ist für mich in schwierigen Situationen hilfreich. Ist es, laufen zu gehen, Musik zu machen, mit jemandem zu reden. Es sind immer Möglichkeiten da. Auch die Möglichkeit zu beschließen, ich halte mich mit diesem Leiden jetzt nicht mehr auf. Ich gehe einen Schritt weiter.

Hoffen heißt, über den Tellerrand hinauszuschauen. Das kann jeder und jede lernen. Und manchmal sind Personen wichtig, die dir dabei helfen. Wie die 13. Fee im Märchen Dornröschen, die einen Segen neben den Fluch stellte.

  • Haben Sie diese Erfahrung von Hilfe in Ihrem Leben selbst auch gemacht?

Ich vertraue zunächst darauf, dass ich zum passenden Zeitpunkt das bekomme, was ich brauche. Zur Zeit versuche ich, einen Beitrag für ein Buch zu schreiben, bei dem ich mir gerade unglaublich schwer tue. Aber ich vertraue darauf, dass mir in meiner riesengroßen Bibliothek zum passenden Zeitpunkt das Buch in die Hände fällt, das ich brauche. Das ist meine Lebenserfahrung. Ich bekomme schon das, was ich brauche. Vielleicht nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe, aber rückblickend hat alles seinen Sinn und ist stimmig.

  • Wäre Hoffnung jetzt politisch angebracht? Barack Obama hat ja auch Hope zu seinem Wahlkampfthema gemacht.

Auf jeden Fall! Es braucht eine Bewegung, wo Menschen aus verschiedenen Bereichen eingeladen werden, kreative Visionen zu entwickeln, damit unsere Schöpfungskraft nicht versickert. Denn jeder Mensch kann
in sich selbst erkennen, was er für die Allgemeinheit beitragen kann.

Es liegen so viele Begabungen brach. Wir haben alle natürliche Überlebens­kräfte und sollten miteinander reden. Das ist in unserer Mediengesellschaft verloren gegangen. Hoffnung ist etwas Wichtiges, aber man muss sie alltagstauglich und realitätsnah machen.

Es braucht ein Miteinander!

Autor:

Michaela Necker aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG

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